# taz.de -- Parlamentswahl in Frankreich: Draußen vor der Tür | |
> Benoît Hamon sollte Präsident Frankreichs werden. Nun bangt er sogar um | |
> sein Abgeordnetenmandat. Und kämpft ohne seine Partei. | |
Bild: Als Präsidentschaftskandidat saß er in Fernsehstudios, jetzt geht er vo… | |
TRAPPES Libé | Ein Jugendlicher öffnet die Wohnungstür, sein kleiner Bruder | |
zwängt sich an ihm vorbei, er möchte sehen, wer da geklingelt hat. Er reißt | |
die Augen auf, legt die Hand auf seinen Mund, macht zwei kleine Schritte | |
zurück; als würde ihm ein Star einen Überraschungsbesuch abstatten. Es ist | |
zwar nur sein Abgeordneter, aber er hat ihn das Frühjahr über im Fernsehen | |
gesehen. Benoît Hamon kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Wie geht’s?�… | |
fragt er den Jungen, „in welche Klasse gehst du?“ | |
Benoît Hamon war Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei (PS), | |
zuletzt Regierungspartei – und ist gescheitert. Mit nur gut sechs Prozent | |
der Stimmen hat er es nicht einmal in die Stichwahl geschafft. Jetzt | |
versucht er, seinen Sitz in der Nationalversammlung zu verteidigen, die am | |
kommenden Wochenende gewählt wird. | |
Dafür ist er in seinen Wahlkreis zurückgekehrt, nach Trappes, eine Gemeinde | |
westlich von Paris. Ohne Kameras. So gut wie keine Presse. Jeden Abend | |
Klinkenputzen und am Wochenende Marktstand. Den Rest der Zeit verbringt | |
Hamon in Paris, um seine neue Bewegung zur organisieren. | |
## Neues Mantra: wir | |
Am 1. Juli will Hamon sie in Paris ins Leben rufen. Über den Name weiß man | |
noch nichts. 12.000 Eintrittsgesuche soll er trotzdem schon erhalten haben, | |
so viele, dass er keinen Veranstaltungsraum findet. Weil ihm das Geld dafür | |
fehlt. Also findet die erste Versammlung unter freiem Himmel statt. | |
Seinen Präsidentschaftsslogan „Frankreichs Herz schlagen lassen“ hat Hamon | |
über Bord geworfen. Der neue lautet: „Die Zukunft, das sind wir.“ Die | |
öko-sozialistischen Farben Rot und Grün rahmen den Slogan ein. Das Logo der | |
Sozialistischen Partei, seiner Partei, ist verschwunden. Sie gilt als | |
zersplittert, einige Flügel hatten sogar Hamons Präsidentschaftskandidatur | |
die Unterstützung versagt und stattdessen auf den sozialliberalen Emmanuel | |
Macron gesetzt. Er gewann. | |
Einem Vertrauten Hamons zufolge will dieser nun, wie schon Macron, eine | |
überparteiliche Bewegung schaffen, offen für Kommunisten, Ökos, | |
Intellektuelle, eine Bewegung, „die zum jetzigen Zeitpunkt nicht die | |
Absicht hat, bei Wahlen anzutreten, sondern die Linke wieder aufbauen | |
will“. | |
Hier in Trappes bekommt Hamon viel Zuspruch. Kaum taucht er auf der Straße | |
auf, allein, am Steuer seines Renault Clio, bestürmen ihn Jugendliche für | |
Selfies. Man spricht ihn auf ein Problem mit dem Sportplatz an. Während er | |
vor einer Haustür darauf wartet, dass sie sich öffnet, beginnen Kinder auf | |
der gegenüberliegenden Straßenseite zu rufen: „Benoît Hamon! Benoît Hamon… | |
„Ich bin tatsächlich der Präsident der Kinder unter zehn“, bemerkt Hamon. | |
Einige Bewohner richten Worte des Trostes an ihn. Gebäude 24, vierter | |
Stock: „Kämpfen Sie weiter, geben Sie nicht auf!“ Erster Stock: „Werden … | |
es 2022 noch mal versuchen?“ – „Ich weiß noch nicht, es ist noch zu frü… | |
um dazu etwas zu sagen“, antwortet Hamon. „Sie hätten an mehr Türen klopf… | |
sollen“, tadelt die Anwohnerin. „In Trappes ist das möglich. Aber da ging | |
es um ganz Frankreich“, sagt Hamon. | |
Wahlen? Schon wieder? | |
In einem anderen Gebäude erklärt eine Frau, dass viele zwischen ihm und | |
Mélenchon hin- und hergerissen waren. „Sie sind jung! Wenn Sie alles | |
reinhauen, passt das in fünf Jahren!“ Die Tür schließt sich. Einige | |
Treppenabsätze weiter sagt Hamon leise: „Jung, jung. Bald bin ich fünfzig.�… | |
Zurück auf der Straße sagt ein Passant zu ihm: „Viel Erfolg in vier | |
Jahren!“ Hamon korrigiert: „In zwei Wochen schon!“ In dieser Stadt mit | |
ihren 31.000 Einwohnern, in der die Wahlbeteiligung selten 50 Prozent | |
übersteigt, scheinen nur wenige überhaupt von den Wahlen zur | |
Nationalversammlung zu wissen. | |
In Trappes selbst hatte Hamon im ersten Wahlgang mit 24 Prozent ein gutes | |
Ergebnis erzielt. Aber die Gemeinde ist nur ein Teil des Wahlkreises, zu | |
dem Städte wie Elancourt, Saint-Cyr-l’Ecole und Le Mesnil-Saint-Denis | |
gehören. Einfamilienhaussiedlungen, die traditionell rechts verankert | |
sind. So kam er im Wahlkreis insgesamt nur auf den vierten Platz, hinter | |
Macron, Mélenchon, und François Fillon, aber knapp vor der Rechtspopulistin | |
Marine Le Pen. | |
Die Wiederwahl in die Nationalversammlung werde „schwierig“, räumt Hamon | |
ein. Auch weil der Wahlkreis „neu zugeschnitten wurde, um ihn rechts zu | |
halten“. Doch 2012 war auch dieser Wahlkreis der Begeisterung für den | |
Sozialisten François Hollande erlegen: Hamon gewann mit 55 Prozent gegen | |
den damals amtierenden Abgeordneten Jean-Michel Fourgous – einen | |
konservativen Republikaner. | |
## Die Konkurrenz wächst | |
Fourgous, Unternehmer und Bürgermeister von Elancourt, würde den Sitz gern | |
zurückerobern. Er spricht so blumig wie seine Stadt aussieht. Für ihn ist | |
Hamon, der unter Hollande eine Zeit lang Minister für Bildung, Hochschulen | |
und Forschung war, „dieser Typ“ der „jedem 1.000 Euro geben will, ohne da… | |
man dafür arbeitet“. Hamon wirbt für die Idee des Grundeinkommens. | |
Weiter wettert Fourgous: Hamon sei einer, der die Legalisierung von | |
Cannabis anstrebt, „um jungen Leuten zu gefallen“, und der hier in Trappes | |
„die Parallelgesellschaften gefördert hat“. Und: „Der Typ ist ein | |
Bekloppter.“ Fourgous beschimpft pauschal alle, „die gegen den Kapitalismus | |
kämpfen. Das sind die Leute, die gegen Erwerbsarbeit sind. Macht ruhig | |
weiter so, Leute! Wir sind ja erst bei 6,5 Millionen Arbeitslosen!“ | |
Vor fünf Jahren gab es einen Zweikampf zwischen Fourgous und Hamon. Jetzt | |
sind es mit den politischen Neulingen von Macrons Bewegung „La République | |
en marche“ (LREM) und der Neugründung „La France insoumise“ (FI) von | |
Jean-Luc Mélenchon schon vier Kandidaten. | |
Macrons Bewegung schickt die 37-jährige Nadia Hai ins Rennen. Eine „Tochter | |
der Gegend“, wie sie sich selbst bezeichnet. Hai ist in Trappes | |
aufgewachsen, zog mit 27 Jahren nach Paris. „Aber meine Mutter wohnt in | |
Trappes, ich verbringe hier meine Wochenenden und bringe zweimal die Woche | |
meine anderthalbjährige Tochter her“, bekräftigt sie. | |
Nadia Hai empfängt in ihrem Hauptquartier, das sie neulich eröffnet hat; | |
eine Etage in einem etwas heruntergekommenen Gebäude im Gewerbegebiet, | |
zwischen Umzugswagen und Möbellagern. „Ich brauche kein Schaufenster in der | |
Innenstadt“, sagt sie. Sie zählt ihre „Auftritte im Feld“ auf – Flohm�… | |
Straßenfeste – und verspricht die Einrichtung von „kollaborativen | |
Onlineplattformen“. | |
Marken-Original gegen die Kopie | |
Sie sei „eher links angehaucht“, sagt sie, habe aber vor ihrem Engagement | |
für Macron nie Politik gemacht. Mit ihrem Arbeitgeber, der Barclay’s Bank, | |
hat die Vermögensverwalterin eine Übereinkunft getroffen, um den Wahlkampf | |
bestreiten zu können. Zunächst weigert sich Nadia Hai, Hamon zu | |
kritisieren: „Ob er oder ein anderer – mein Programm bleibt das gleiche.“ | |
Es ist jenes des Staatspräsidenten. Doch dann bringt sie eine polemische | |
Spitze unter: „Was ich den Herren Hamon und Fourgous gerne sagen würde, ist | |
Folgendes: Man ist nicht als Abgeordneter geboren, man wird es.“ | |
„Sie braucht überhaupt keinen Wahlkampf zu machen“, kontert der Sozialist | |
Hamon. „Es reicht völlig, wenn sie die Plakate mit dem Gesicht Macrons | |
aufhängen.“ Fotos, Namen. Für viele scheint das zu reichen. | |
„Mélenchon!“ Am Ausgang des Marktes in Trappes wiederholt Mathurin Lewis, | |
25 Jahre alt, den Namen der Führungsfigur des FI mit jedem Flugblatt, das | |
er verteilt. Auch Lewis ist Kandidat im Wahlkreis, ebenfalls einer | |
neugegründeten Bewegung. Bis Anfang 2016 stand Lewis den Jungsozialisten | |
vor, dem Nachwuchs der PS. Über Hamon sagt er: „Er ist ein offener und | |
ehrlicher Abgeordneter, aber er ist Gefangener einer politischen | |
Maschinerie.“ Und: „Die Leute hier sind sauer auf die Sozialistische | |
Partei, nicht auf Hamon.“ | |
Lewis wiederholt die Argumente seiner Bewegung: „Wir brauchen eine klare | |
und kohärente politische Kraft.“ Lewis glaubt, der aussichtsreichste | |
Kandidaten der Linken zu sein, weil er „die Marke Mélenchon“ vertritt. | |
„Die Marke Hamon ist vielleicht weniger stark, aber hier kandidiert der | |
Urheber der Marke.“ Hamon sitzt am Steuer seines Renault und amüsiert sich. | |
Er ist auf dem Weg zu einer Hausversammlung in La Verrière. Das Radio ist | |
auf einen Sportsender eingestellt. Etwa fünfzehn Freunde haben sich in | |
einem Wohnzimmer versammelt, um mit Hamon zu diskutieren. Lehrer, | |
Angestellte aus dem Gesundheitswesen, Studenten, Rentner, ein Taxifahrer. | |
Hamon fragt nach einem Glas Rotwein und nimmt sich Chips und Gemüsesticks. | |
Drei Stunden sprechen sie über aktuelle Themen: innere Sicherheit, Umwelt, | |
Gesundheit, Flüchtlingskrise, Naher Osten, der Islam. | |
Wiederwahl für Sozialisten nicht sicher | |
Eine Frau fragt ihn nach der „Zerstörung der Sozialistischen Partei“. Hamon | |
sagt: „Das wird sich natürlich wieder aufbauen. Aber ich denke nicht mehr | |
in festen Parteistrukturen.“ Und weiter: „Es gibt diese soziale, | |
ökologische, proeuropäische Landschaft. Wird es die Sozialistische Partei | |
sein, die sie erschließt? Einige, die gestern noch Mitglieder der | |
Sozialisten waren, werden es morgen nicht mehr sein. Irgend etwas ist | |
zerbrochen während dieser Präsidentschaftswahlen.“ | |
Hamon kritisiert „die Doppelzüngigkeit“ einiger seiner Parteifreunde. Sein | |
Publikum hört das gern. Eine Frau sagt, er solle sich wegen seiner | |
Wiederwahl keine Sorgen machen. Hamon hört zu und prophezeit: „Ihr werdet | |
viele Sozialisten erleben, die nicht gewählt werden!“ Er weiß, wovon er | |
spricht. | |
Aus dem Französischen von Frédéric Valin | |
7 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Lilian Alemagna | |
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