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# taz.de -- Folgen der Krise in Venezuela: Hart an der Grenze
> Im kolumbianischen Grenzort Cúcuta sind zehntausende Venezolaner täglich
> auf der Suche nach Nahrung und Arbeit. Das sorgt für Spannungen.
Bild: Während die einen in Venezuela gegen Präsident Maduro demonstrieren, fl…
San José de Cúcuta taz | Ohne die Behandlung in Kolumbien wäre Jesús Andrés
Carrillo Vera keine vier Monate alt geworden. Er wäre an seiner
Hirnhautentzündung gestorben, ist sich seine Mutter sicher. „Die Ärzte in
Venezuela konnten meinem Sohn nicht helfen“, sagt Jelitza Vera. „Es fehlt
an Personal und Impfstoffen. Sie haben mir nur ein teures Medikament
verschrieben. Und das können wir uns nicht leisten, obwohl mein Mann und
ich beide arbeiten.“
Die 20-jährige Venezolanerin sitzt auf einem Plastikstuhl neben dem
Krankenhausbett und stillt den kleinen Jesús. Ventilator und Fernseher
lärmen um die Wette, ein Thermometer zeigt 80 Prozent Luftfeuchtigkeit an.
Vor vier Wochen ist Vera die zehn Kilometer von San Antonio del Táchira in
die kolumbianische Grenzstadt Cúcuta gereist, eine Provinzhauptstadt im
Norden des Landes. Seither verpflegt sie dort das Universitätsklinikum
Erasmo Meoz, das größte Krankenhaus der Region. Jeder fünfte Patient in der
Notaufnahme ist Venezolaner. Und das bringt Juan Agustín Ramírez Montoya in
Bedrängnis.
Der Geschäftsführer des „Erasmo“ betrachtet es als seine Pflicht, zu
helfen. Allein weil bis vor Kurzem die Rollen vertauscht und Venezuela den
Kolumbianern Zuflucht vor Farc-Rebellen und Paramilitärs geboten hat.
Gleichzeitig räumt er ein: „Wir stehen vor dem Kollaps.“ Schon jetzt sei
das Krankenhaus zu 30 Prozent überbelegt.
Und die Zahl venezolanischer Patienten steige an. 2016 waren es mit 2.298
mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Und in den ersten drei Monaten
2017 wurden schon fast tausend Venezolaner behandelt. Auf den Kosten dafür
bleibt das Krankenhaus möglicherweise sitzen. „Der Gesundheitsminister hat
mir zwar am Telefon die Übernahme der bisherigen Ausgaben zugesagt“, sagt
der 59-Jährige. „Wie es danach weitergeht, ist offen.“
## Sterberate bei Säuglingen stieg sprunghaft an
In der sechstgrößten kolumbianischen Stadt ist die Unsicherheit groß, wie
sich [1][die Krise jenseits der Grenze] auf sie auswirkt. Seitdem dort
Nicolás Maduro 2013 dem verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez [2][im Amt
nachfolgte], befindet sich Venezuela [3][wirtschaftlich und politisch im
freien Fall]. Die kollabierenden Ölpreise haben dem Regime die
Haupteinnahmequelle genommen, die Devisenreserven sind auf ein
Rekordminimum geschrumpft. Vielerorts ist die Versorgungslage dramatisch.
Erst vergangene Woche räumte das Gesundheitsministerium ein, dass die
Sterberate bei Säuglingen 2016 sprunghaft angestiegen sei. Der Abbau von
Bürger- und Freiheitsrechten, der seit Anfang April zu heftigen Protesten
mit bislang 43 Toten geführt hat (siehe Kasten), sorgt für zusätzlichen
Unmut.
„Es ist sehr traurig, was in meinem Land passiert“, sagt die junge Mutter
Jelitza Vera. „Meiner Regierung ist es vollkommen egal, dass ein
viermonatiges Kind an einer Hirnhautentzündung stirbt.“ Der Frust ist in
Cúcuta an jeder Ecke zu spüren. Viele kommen hierher, um Lebensmittel oder
Medikamente zu kaufen. In den Wechselstuben im Zentrum türmen sich die
Bolívares, die so schnell ihren Wert verlieren wie keine andere Währung in
der Welt. Die Inflation liegt bei 800 Prozent.
„Wir sind mit einem ganzen Bündel gekommen und bekommen dafür drei
Scheine“, klagt eine Frau, die im Schatten eines Gummibaums Zuflucht vor
der Mittagshitze sucht. Acht Stunden Anreise hat sie mit ihren drei
Töchtern hinter sich, um in Kolumbien Windeln zu kaufen. Vier Sporttaschen
und zwei Koffer stehen prall gefüllt vor ihnen. „Das reicht für drei
Monate“, sagt sie. „Wenn das Kind nicht krank wird und Durchfall bekommt.“
Jeden Tag reisen nach Angaben der kolumbianischen Migrationsbehörde
mindestens 55.000 VenezolanerInnen ins Land ein. Viele Menschen hier haben
beide Staatsbürgerschaften, leben und arbeiten mal auf der kolumbianischen,
mal auf der venezolanischen Seite. Doch seitdem es mit Venezuela bergab
geht, sind nicht nur viele Exilkolumbianer zurückgekehrt – auch immer mehr
VenezolanerInnen suchen nun in Cúcuta Arbeit. Sie wischen
Windschutzscheiben, verkaufen Fruchtsäfte und sogar die eigenen Haare.
## Fünf Euro am Tag sind großes Glück
Nicht alle haben das Glück, einen richtigen Job zu finden wie Jenny Gómez.
Die 32-Jährige verkauft Jeans in der wuseligen Avenida 6 im Herzen Cúcutas.
Hier reiht sich Laden an Laden. Selbst auf den schmalen Bürgersteigen sind
noch Kleidung, Sonnenbrillen, Elektroartikel ausgelegt. Gómez wohnte bis
Januar in einem wohlhabenden Stadtteil von Valencia, der drittgrößten Stadt
Venezuelas und rund 600 Kilometer von der Grenze entfernt. „In Venezuela
gibt es keine Arbeit, keine Perspektive“, sagt Gómez wütend. „Ich sehe, w…
sich hier in Kolumbien 14-jährige Mädchen prostituieren. So weit ist es mit
uns gekommen.“ Dann fragt sie, ob man nicht eine Hose anprobieren möchte.
Jenny Gómez hatte doppelt Glück. Sie hat nicht nur einen Job gefunden – die
Ladenbesitzerin zahlt ihr auch noch so viel wie den kolumbianischen
Verkäuferinnen. 17.000 Pesos, etwas mehr als 5 Euro, bekommt sie am Tag.
Oft zahlen die Händler in Cúcuta den venezolanischen Angestellten nur die
Hälfte. Anuska Nimask etwa bekam für ihren letzten Job nur 10.000 Pesos pro
Tag. Für Mittagessen und Bus ging schon über die Hälfte drauf. Sie hat
gekündigt. Nach einem Jahr in Kolumbien klingt die 29-jährige
niedergeschlagen. „Ich mache hier alles: Ich jobbe in Discos und Apotheken,
passe auf Kinder auf, putze. Als Venezolanerin muss ich dafür noch dankbar
sein.“
Fragt man in den Läden nach der ungleichen Bezahlung, winken viele Inhaber
ab. Wir helfen ihnen doch, sagt einer. Eine aufrichtige Antwort erhält man
im Rathaus. „Wer Ausländer ohne Arbeitsvisum anstellt, macht sich in
Kolumbien strafbar“, sagt César Rojas. „Unter diesem Vorwand nutzen die
Händler die Situation der bedürftigen Venezolaner aus.“
Der Bürgermeister empfängt in einem Saal mit Marmorboden. An der Wand hängt
ein Gemälde von Francisco de Paula Santander, eines Weggefährten von Simon
Bolívar – jenem Freiheitshelden, auf den sich die venezolanische Regierung
bei ihrer sozialistischen Revolution beruft. Vom Büro aus kann Rojas auf
den hübschen Parque Santander hinunterblicken. Dort, wo Nacht für Nacht die
Kinder der venezolanischen Revolution im Freien schlafen.
## Es gibt dutzende illegale Routen
„Seitdem Nicolás Maduro in Venezuela Präsident ist, ist bei uns die
Arbeitslosigkeit gestiegen“, sagt Rojas. Vor ein paar Jahren noch hätten
viele Firmen aus Cúcuta in Venezuela investiert oder Handel getrieben. Doch
diese Einnahmen seien genauso eingebrochen wie die aus dem Tourismus: Heute
reisen kaum mehr Kolumbianer zu den Nationalparks El Tamá oder Chorro El
Indio in Venezuela, die auf dem Weg dorthin früher Geld in der Grenzstadt
gelassen hatten. „Cúcuta ist die Stadt mit der höchsten Arbeitslosen- und
Schwarzarbeitsrate in ganz Kolumbien“, sagt César Rojas. „Wir können nicht
noch mehr Venezolaner aufnehmen“.
Um die Einreise besser überwachen zu können, müssen VenezolanerInnen seit
Monatsbeginn den carnet fronterizo vorzeigen. Ein Dokument, bei dem sie
auch den Grund ihrer Einreise angeben müssen. Bis zum Stichtag wurde der
Ausweis mehr als 90.000-mal beantragt. Wer ihn nicht vorzeigt, wird
abgewiesen. Zumindest offiziell. „Es ist unmöglich, die Grenze zu
bewachen“, räumt der Beamte Mauricio Jímenez ein. „Es gibt dutzende
illegale Routen.“ Auf ihnen wird vor allem billiges venezolanisches Benzin
nach Cúcuta geschmuggelt.
Am Grenzübergang „Puente Internacional Simón Bolívar“, für den Jímenez
zuständig ist, ist gerade die Sonne aufgegangen. Auf der Mitte der langen
Betonbrücke über den Río Táchira stehen hunderte VenezolanerInnen Schlange
vor dem kolumbianischen Kontrollposten; die Tagelöhner ohne Gepäck, die
Einkäufer mit leeren Taschen, die Exilanten mit Koffern.
Doch nicht alle wollen in Kolumbien bleiben. Eine Gruppe gut gekleideter
Studenten will weiter nach Chile. Sieben Tage brauchen sie dorthin,
durchqueren Kolumbien, Ecuador und Peru, mehr als sechstausend Kilometer.
Die Busfahrt wird an der Grenze für 330 US-Dollar angeboten. „Wir halten es
nicht mehr aus“, sagt eine der jungen Frauen. „Keine Jobs und nun auch noch
die Gewalt. Wir kommen erst zurück, wenn unser Land ein anderes ist.“
## Streitkräfte an der Grenze werden verstärkt
In Kolumbien scheint man sich derzeit auf ein anderes Szenario
einzustellen. Vor zwei Wochen kündigte der stellvertretende
Verteidigungsminister im Parlament an, die Streitkräfte an der Grenze
massiv zu verstärken. Man sei bereit – für den Fall einer humanitären
Krise.
17 May 2017
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## AUTOREN
Ralf Pauli
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