# taz.de -- Debatte Politische Lage in Venezuela: Ein Land im freien Fall | |
> Das Land steckt in einer Krise. Bis es zum Bürgerkrieg kommen wird, ist | |
> nur eine Frage der Zeit, schreibt unser venezolanischer Gastautor. | |
Bild: Venezuela hat seit der sogenannten Caracazo 1989 nicht wieder zur Ruhe ge… | |
Warum ist in Venezuela noch immer kein Bürgerkrieg ausgebrochen? Angesichts | |
der herrschenden Hochspannung und der Unzahl von Katastrophen, die das Land | |
durchlebt, reiben sich nationale und internationale Beobachter verwundert | |
die Augen. Einige schreiben die augenscheinlich passive Atmosphäre in noch | |
immer weiten Teilen des karibischen Landes dem unbeschwerten Charakter | |
seiner Bewohner zu. Also jener Leichtigkeit, mit der jedes Unbehagen | |
hingenommen wird und die als typische nationale Eigenart gilt. | |
Tatsächlich ist Venezuela ein Land, in dem man sich noch inmitten jedes | |
politischen Sturms am Wochenende Urlaub nimmt, um die Strände zu genießen | |
und die herrliche Landschaft mit dem ewigen Frühlingsklima. Oder man schaut | |
europäischen Fußball und die Baseballspiele der großen US-Ligen. | |
Doch von der Ruhe, die noch immer in einem Großteil des Landes zu | |
beobachten ist, darf sich niemand täuschen lassen. Hier lebt eine | |
Gesellschaft, in der das Unvorhergesehene so plötzlich zum Vorschein kommt | |
wie die Geschehnisse im Februar 1989 bei der sogenannten Caracazo – jener | |
spontanen Sozialrevolte, die sich eine ganze Woche lang hinzog, bei der | |
Hunderte von Menschen umkamen und Plünderungen und Vandalismus einen | |
enormem Schaden verursachten. | |
Venezuela hat seither nicht wieder zur Ruhe gefunden und ist zudem | |
ständigen wirtschaftlichen Irrungen unterworfen. Hinzu kommen eine extrem | |
hohe Kriminalitätsrate, eine atemberaubende Inflation sowie große soziale | |
Diskrepanzen. Die ganze Bevölkerung erlebt eine tiefgreifende Krise. | |
## Tourismus futsch, Löhne werden per Dekret angehoben | |
Der unbeschwerte Umgang mit den Einkommen des Staates aus den täglichen | |
Exporten von nahezu zweieinhalb Millionen Fass Öl, die bis vor einigen | |
Jahren im Durchschnitt 100 Dollar pro Fass überstiegen, hat nicht zu einem | |
nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklungsmodell geführt, das unabhängig | |
von den Öl- und Erzvorkommen wäre. Die Landwirtschaft wiederum wurde | |
stiefmütterlich behandelt. Trotz der 912.050 Quadratkilometer großen | |
kultivierbaren Nutzfläche des Landes müssen nahezu alle Nahrungsmittel | |
importiert werden. Dafür stehen immer weniger Einnahmen zur Verfügung. | |
Die offizielle Zahl der Arbeitslosen ist geschönt. Einem aufmerksamen | |
Beobachter entgeht die Anzahl der Menschen nicht, die sich dem informellen | |
Handel auf den Avenidas und Boulevards der Städte widmen. Bettelei und | |
Elend sind unübersehbar. Die Inflation lastet auf den Konsumenten wie auf | |
der Regierung, die sich wieder und wieder genötigt sieht, die Löhne per | |
Dekret anzuheben. Darunter leidet die Privatwirtschaft; in vielen Fällen | |
müssen Läden oder Industriebetriebe schließen. Der Tourismus ist aufgrund | |
der herrschenden Kriminalität nahezu verschwunden, was wiederum Investoren | |
in sämtlichen Wirtschaftsbereichen entmutigt. Bei der Jugend hat eine | |
Migrationswelle eingesetzt, die auf dem Kontinent ihresgleichen sucht. | |
## Die Regierung kontrolliert die Informationen | |
Am dramatischsten ist die Situation im Gesundheitssektor. Der | |
Medikamentenmangel hat ein beeindruckendes Ausmaß erreicht. Viele Labors | |
pharmazeutischer Tochterfirmen sind geschlossen, weil die Regierung den | |
Umtausch und Transfer von Devisen an die Muttergesellschaften im Ausland | |
nicht zusicherte. Medizinische Geräte stehen nutzlos herum, da die für | |
Reparatur und Wartung nötigen Ersatzteile wegen Devisenmangel nicht gekauft | |
werden können. Das Gleiche gilt für den Automarkt und die restliche | |
Industrie. | |
Hinzu kommt, dass in Venezuela geradezu eine Onlinekommunikationsschlacht | |
entfesselt wurde. Die Regierung kontrolliert in hohem Maße die im Land | |
zirkulierenden Informationen. Seit zehn Jahren betreibt sie eine Politik, | |
die die These der kommunikativen Hegemonie in die Praxis umsetzt. Dafür | |
wurde reichlich von den Öleinnahmen Gebrauch gemacht, mit denen Fernseh- | |
und Radiokanäle gekauft oder neu geschaffen wurden. Das Privatfernsehen | |
meidet eine gründliche Berichterstattung über die Protestmärsche und andere | |
Demonstrationen der Opposition, um keine Sanktionen oder Millionenstrafen | |
auferlegt zu bekommen. Den noch existierenden Printmedien droht der Zugang | |
zu Papier verwehrt zu werden, dessen Verkauf ebenso wie der Verkauf von | |
Dollars für Importe ausschließlich von der Regierung organisiert wird. | |
## Bewaffnete Nachbarschaftsbrigaden | |
Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen greifen auf die sozialen | |
Medien zurück, um sich zu informieren, und schaffen damit zugleich ein | |
Netzwerk neuer Gruppierungen. Dass die sozialen Medien der Opposition einen | |
Informationskanal bieten, wissen die Regierungspartei und ihre | |
Sympathisanten aber. Sie nutzen diesen Weg also ebenso, und schon oft hat | |
die Opposition ihre Anhänger vor Desinformationen und taktischen | |
Manipulationen gewarnt. | |
Die Entscheidung der Opposition, nach der Entmachtung des Chavismus | |
kämpferisch aufzutreten, macht die Gemengelage noch komplizierter. Der | |
Chavismus wird gegenwärtig von Staatspräsident Nicolás Maduro | |
repräsentiert, der Hugo Chávez vor seinem Tod als Nachfolger ernannt hatte. | |
Die Oppositionsführung hat die Bevölkerung dazu aufgerufen, die Straßen zu | |
besetzen, um gegen die Verzögerung der von der Verfassung für Dezember 2016 | |
vorgesehenen Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen durch den Obersten | |
Wahlrat zu protestieren. | |
Dazu kommt die Verhinderungstaktik des Obersten Wahlrats und des | |
Präsidenten gegen ein Referendum zu dessen Abwahl – jenen neuen | |
Rechtsgrundsatz, der eigens in die nach dem Beginn des Chavismus 1999 in | |
Kraft getretenen Verfassung eingefügt wurde und es ermöglicht, den | |
Präsidenten nach der Hälfte seiner Amtsperiode abzusetzen. Um das Drama zu | |
vervollständigen, hat die Regierung angekündigt, die „Unidades de Batalla | |
Bolívar“ zu bewaffnen – Nachbarschaftsbrigaden, die sich eigentlich | |
sozialen Aufgaben widmen, nun aber in Stoßtrupps zur Verteidigung der | |
Revolution umgewandelt werden sollen. Bis zum Bürgerkrieg dürfte es dann | |
nicht mehr weit sein. | |
Übersetzung aus dem Spanischen: Jürgen Vogt | |
16 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Oscar Torres | |
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