# taz.de -- Farc auf dem Poesiefestival in Kolumbien: Das erträumte Land erric… | |
> Schmerz und Versöhnung nach 50 Jahren Bürgerkrieg: Beim Poesiefestival | |
> Medellín traten internationale Dichter und ehemalige Farc-Rebellen auf. | |
Bild: Eine der Bibliotheken, die die Farc für ihre Kämpfer in den sogenannten… | |
Vor der Metrostation El Poblado bauen junge Frauen in gelben T-Shirts einen | |
Bücherstand auf. Es ist kurz nach 6 Uhr abends, Menschen eilen die Stufen | |
zur Hochbahn hinauf. Der hektische Platz im reichen Süden Medellíns | |
erscheint denkbar ungeeignet für eine Lesung. Doch eine halbe Stunde später | |
sitzt das Publikum zahlreich auf den Stufen und hört inmitten von | |
Verkehrslärm vier Dichtern auf einer improvisierten Bühne zu. | |
Wenn in Medellín eine Woche lang in Parks, Theatern, Schulen, | |
Universitäten, Bibliotheken und auf öffentlichen Plätzen Lyrik vorgetragen | |
wird, hält die Stadt den Atem an. Jairo Guzmán, einer der Mitorganisatoren, | |
betont, das Festival wurde in erster Linie für die Bewohner der Stadt | |
gegründet. | |
1991 luden der Dichter Fernando Rendón und seine Mitstreiter erstmals | |
nach Medellín ein. Die Stadt war damals fest im Griff des gleichnamigen | |
Drogenkartells unter Führung von Pablo Escobar. Entführungen und Morde | |
waren an der Tagesordnung. Die Menschen, erzählt Guzmán, trauten sich nach | |
6 Uhr abends nicht mehr aus ihren Häusern. Im umliegenden Departamento | |
Antioquia lieferten sich die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens | |
(Farc-EP), paramilitärische Gruppen und die Armee kriegerische | |
Auseinandersetzungen, deren Konsequenzen – die Vertreibung und Flucht der | |
Landbevölkerung – bis in die Peripherie von Medellín zu spüren waren. | |
## Weltweit innovativste Stadt | |
„Wir wollten den öffentlichen Raum zurückerobern“, erzählt Guzmán. Im | |
Teatro Carlos Vieco, einem Amphitheater auf dem Nutibara-Hügel, kamen 5.000 | |
Leute zusammen. Das Festival dauerte beim ersten Mal nur einen Tag, aber es | |
war der Anfang, sagt Guzmán, um die Gewalt einzudämmen. Der Bürgermeister | |
Sergio Fajardo nahm den Impuls auf und läutete mit der Förderung von Kultur | |
und Bildung einen langwierigen Befriedungsprozesses ein: In den Comunas, | |
den sozial benachteiligten, oft wild gewachsenen Vierteln, wurden | |
Bibliotheken eingerichtet, neue Museen und öffentliche Plätze geschaffen, | |
die oft schwer zugänglichen Viertel mit öffentlichen Transportmitteln | |
erschlossen. | |
Heute gilt Medellín als Erfolgsmodell – das Wall Street Journal verlieh ihm | |
2014 den Titel „weltweit innovativste Stadt“. Doch die sozialen Gegensätze | |
sind nicht zu übersehen: In der Zona Rosa, dem Ausgehviertel im Stadtteil | |
El Poblado, locken fancy Diskotheken und Restaurants, in der Altstadt | |
liegen Drogensüchtige auf dem Gehsteigen, und im Schatten der | |
Bronzeplastiken von Fernando Botero kann man beobachten, wie | |
Kinderprostitution angebahnt wird. In den Comunas auf den Hügeln bekriegen | |
sich immer noch kriminelle Banden: In der Festivalwoche starb ein Student | |
an einem Querschläger. | |
Die diesjährige Ausgabe des Festivals steht im Zeichen der nationalen | |
Politik: [1][Ende Juni bestätigten die Vereinten Nationen], dass die Farc | |
ihre Waffen vollständig abgegeben habe. Die Demilitarisierung ist Teil des | |
Friedensabkommens, das die kolumbianische Regierung 2016 mit der | |
Guerillaorganisation unterzeichnet hat. Mehr als fünf Jahrzehnte Krieg | |
wurden damit beendet. Die Festivalmacher luden in Debatten zum Nachdenken | |
über Kolumbien nach dem Konflikt ein: „Construyendo el país soñado“ (Das | |
erträumte Land errichten) lautete das Motto auf den allgegenwärtigen gelben | |
T-Shirts. | |
## Der Friedenswille der Farc | |
220.000 Tote, 85.000 „Verschwundene“, mit den Vertriebenen insgesamt 8,4 | |
Millionen Opfer hat der Bürgerkrieg gefordert. Mehrmals wiederholt | |
Fernando Rendón diese Zahlen. Der Festivaldirektor hat im 13. Stock des | |
Gran Hotel die geladenen Dichterinnen und Dichter versammelt und bittet | |
sie, einen offenen Brief zu unterzeichnen. Darin wird an Präsident Juan | |
Manuel Santos appelliert, die Umsetzung des Friedensabkommens nicht zu | |
verzögern und die Farc-Kämpfer zu amnestieren. Und an die Farc, in ihrem | |
Friedenswillen nicht nachzulassen. Rendón spricht über die Schwierigkeiten | |
des Friedensprozesses. In den sogenannten [2][Zonas de Normalización], | |
Übergangscamps, in denen die Farc-Kämpfer nach vielen Jahren des Lebens im | |
„Dschungel“ wieder ins Zivilleben eingegliedert werden sollen, ist die von | |
der Regierung versprochene Infrastruktur bisher nur zum Teil errichtet. | |
Einige Exguerilleros wohnen immer noch in Zelten, erzählt die Dichterin | |
Samira Negrouche aus Algerien, die für eine Lesung in eines der Camps in | |
den Bergen im Departamento Antioquia gereist ist. 200 Leute leben dort, sie | |
haben eine Bücherei, in der Workshops stattfinden. Negrouche hat den | |
Exguerilleros erzählt, dass es in Algerien auch einen Bürgerkrieg gegeben | |
habe – zwischen dem bewaffneten Arm der Islamischen Heilsfront (FIS) und | |
der Regierung. Die Farc-Mitglieder hätten Negrouche widersprochen, die | |
Situation sei nicht vergleichbar. Sie kämpften für soziale Gleichheit. | |
Nach den Entführungen durch die Farc zu fragen habe sie sich nicht getraut, | |
erzählt Negrouche. Schließlich habe man bei den Leuten die Nacht verbringen | |
müssen. | |
## Liebe im Urwald | |
Die Lesungen in den Übergangscamps sind nicht die einzige Geste des | |
Festivals in Richtung der Farc. Musiker der Guerillaorganisation treten | |
auf und Martín Cruz stellt seinen Band „Diario de guerra y la paz. Relatos | |
y poemas de trinchera“ (Kriegs- und Friedenstagebuch. Erzählungen und | |
Gedichte aus dem Schützengraben) vor. Seit 1971 kämpft Cruz unter dem Nom | |
du guerre Rubín Morro für die Farc und gehört heute dem Generalstab an. Er | |
ist auch in der Kommission, die die Umsetzung des Friedensabkommens | |
überwacht. „Ich habe nie gedacht, dass ich ein Buch schreiben würde“, | |
erzählt er. | |
Seine Gedichte speisen sich „aus den Erfahrungen im Urwald, den Gefechten, | |
der Erfahrung von Liebe und Trennung und vor allem der Natur“. Doch | |
verklärten sie den Krieg nicht, sondern feierten das Leben, das Wort, die | |
Versöhnung. „Ohne Frieden erreichen wir nichts“, ist Cruz überzeugt. Die | |
Verantwortung der Farc an den Toten des Bürgerkriegs relativiert er jedoch. | |
Für die Taten gebe es „verschiedene Verantwortliche“. Der | |
Hauptverantwortliche sei aber der Staat. „Die Guerilla hat sich verteidigt, | |
zwar auch für Leid gesorgt, aber nicht systematisch.“ | |
Viele Taten sind bis heute nicht juristisch untersucht. Eine | |
Wahrheitskommission soll bald eingesetzt werden. Die Dichterin María Isabel | |
García stammt aus Guamal in Nordkolumbien. Zwei ihrer Brüder, die sich in | |
der legalen Opposition engagierten, wurden in den 1990er Jahren ermordet. | |
Der eine Bruder traf sich mit zwei Freunden in einem Haus, das von | |
Streitkräften umstellt und bombardiert wurde: Die verbrannten Leichen | |
wurden auf den Dorfplatz in Guamal geworfen. Der andere Bruder war 65 Jahre | |
alt, als er von einer paramilitärischen Gruppe erschossen wurde. Ihm wurde | |
vorgeworfen, „revolutionäre Ideen“ ins Departamento Magdalena gebracht zu | |
haben. In beiden Fällen wurden die Täter nie zur Rechenschaft gezogen. Die | |
Familie erhielt auch keine staatliche Wiedergutmachung. | |
## Eine Chance für die Aufklärung? | |
„Mein Schmerz ist kein bitterer Schmerz“, sagt García, „mein Schmerz ist | |
ein Schmerz, der die Versöhnung sucht.“ Sie fühle sich nicht als Opfer. So | |
schreibt sie auch in einem ihrer Gedichte: „Gozo la luz que en mis se queda | |
/ para ahuyentar el miedo“ (Ich genieße das Licht, das in mir verbleibt / | |
um die Angst zu verscheuchen). | |
Geschichten wie die von María Isabel García sind viele auf dem Festival zu | |
hören, im Museo de la Memoria, wo der Opfer des Bürgerkriegs gedacht wird, | |
aber auch auf der zentralen Plaza Botero, wo Fotografien von Verschwundenen | |
ausgestellt sind. | |
Bietet das Ende des Bürgerkriegs eine Chance für die Aufklärung der | |
Vergangenheit? Die Stimmung im Land ist gespalten. Warum die Nachricht der | |
Entwaffnung der Farc wenig Begeisterung ausgelöst hat, erklärt Marco Fidel | |
Cardona, ein junger Dichter aus Bogotá. „Die Rechte versucht alles, um den | |
Friedensprozess zu sabotieren. Nur ein Fernsehsender berichtete ausführlich | |
über die Demilitarisierung der Guerilla.“ Er sieht die Gefahr, dass in die | |
Gebiete, aus denen sich die Farc zurückgezogen haben und die reich an | |
Bodenschätzen sind, nun paramilitärische Gruppen vorstoßen. Die würden dann | |
jegliche Proteste gegen geplante Bergbauprojekte mit Gewalt ersticken, | |
befürchtet Cardona. | |
Dass es vielen Kolumbianern an Enthusiasmus über das Ende der Farc-Guerilla | |
fehlt, hat auch damit zu tun, dass viele Probleme dadurch nicht gelöst | |
sind; die Anbauflächen für Koka haben sich 2016 um 52 Prozent vergrößert, | |
auch die Mordrate im Land ist weiterhin hoch. Die Zeitung El Tiempo | |
berichtet, dass sich 2016 die meisten Morde allerdings in Familien oder in | |
alltäglichen Auseinandersetzungen ereignet haben. | |
Während die internationalen Dichter wieder abreisen, feiert Fernando Rendón | |
in Bogotá seinen Geburtstag. Er zieht Bilanz: „Es war sehr schön, dass die | |
Farc-Leute auf dem Festival waren.“ Es sei ihr erster Auftritt nach der | |
Rückkehr in die Legalität gewesen. „Die Leute in Medellín haben sie | |
umarmt“, sagt er gerührt. | |
21 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Timo Berger | |
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