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# taz.de -- Pau und Binninger über den NSU: „Es gab weitere Mittäter“
> Es gibt weitere NSU-Helfer, sind die Linke Petra Pau und CDU-Mann Clemens
> Binninger überzeugt. Können sie noch gefunden werden?
Bild: Alle Verstrickungen des NSU konnte auch Clemens Binniger im Untersuchungs…
taz: Frau Pau, Herr Binninger, vor zehn Jahren starb das letzte NSU-Opfer:
die Polizistin Michèle Kiesewetter. Ihr Tod bleibt rätselhaft – womöglich
für immer: Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag beendete gerade
seine Arbeit, der NSU-Prozess in München nähert sich dem Urteil. War’ s das
mit der Aufklärung?
Clemens Binninger: Ja, ich glaube, es geht jetzt erst mal zu Ende. Das muss
man akzeptieren. Für mich ist entscheidend: Haben wir alles getan, was wir
können, um die offenen Fragen zu klären? Ich denke, das haben wir – auch
wenn wir am Ende nicht alles beantworten können.
Petra Pau: Nein, vorbei ist es noch nicht: Es laufen ja weiter fünf
Untersuchungsausschüsse in den Ländern. Und es gibt weiter drängende
Fragen, allen voran die der Opferangehörigen: Warum traf es ausgerechnet
meinen Vater, meinen Bruder, meine Tochter? Und: Was wussten die Behörden
wirklich über das untergetauchte NSU-Kerntrio, insbesondere der
Verfassungsschutz?
Binninger: Natürlich gibt es weiter offene Fragen, leider. Aber wir sind
eben auch an einen Punkt gekommen, an dem wir sagen müssen: Ohne neue
Spuren kommen wir, zumindest hier im Bundestag, nicht weiter. Im jetzigen
und dem vorherigen Untersuchungsausschuss haben wir es auf 13.000
Aktenordner gebracht. Wir haben wirklich jedes Dokument, das relevant war,
einmal angeguckt. So eine umfassende parlamentarische Aufklärung gab es
noch nie.
Bis heute aber ist offen, wie groß der Nationalsozialistische Untergrund
überhaupt war. Ihr Ausschuss kam zu dem Schluss: Er war größer als Beate
Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Welche Belege haben Sie?
Binninger: Es gibt eine Reihe Indizien, die gegen die Trio-These sprechen.
Also: Wir haben keinen einzigen Tatortzeugen, der zweifelsfrei sagt, ich
habe Mundlos und Böhnhardt gesehen. Wir haben kein Phantombild, das so
richtig passt. Und an keinem der NSU-Tatorte fanden sich DNA-Spuren von
Mundlos, Böhnhardt oder Zschäpe. Nicht bei den zehn Morden, nicht bei den
zwei Anschlägen, nicht bei den 15 Raubüberfällen. Das ist ein Phänomen.
Laut Ermittler hätten sich die Täter eben gut maskiert.
Binninger: Das ist beim Banküberfall noch machbar. Aber beim Mord an der
Polizistin Michèle Kiesewetter, wo die Täter an den Opfern herumzerrten, um
ihnen die Waffen zu entreißen? Eigentlich undenkbar. Dazu kommt, dass in
Heilbronn Zeugen blutverschmierte Männer gesehen haben wollen. Das LKA
sagt: Die Zeugen sind glaubwürdig. Wenn das zutrifft, waren an der Tat
mindestens sechs Personen beteiligt, dann passt hier schon die Trio-These
nicht mehr. Das kann man nicht einfach so wegwischen.
Pau: Oder nehmen wir die Tatortauswahl. Auf die Orte für einige der Morde
oder den ersten Bombenanschlag in Köln wäre man ohne ortskundige Hilfe
nicht gekommen. Das waren versteckte Läden, bei denen teilweise nicht mal
erkennbar war, dass sie von Migranten betrieben wurden.
Binninger: Und mich macht auch die Tathäufung gleich nach dem Untertauchen
stutzig. Da wird ein Trio öffentlich gesucht, mit Haftbefehl. Und was
machen die, wo alle denken, die verhalten sich unauffällig? Sie verüben
gleich zu Beginn vier Morde, zwei Banküberfälle und einen
Sprengstoffanschlag. Von Hamburg bis München, von Köln bis Chemnitz. Ohne
irgendwo Spuren zu hinterlassen. So etwas habe ich noch nie erlebt in der
Kriminalgeschichte.
Sie haben zwei Jahre Akten gewälzt: Haben Sie Hinweise gefunden, wer
mitmordete?
Binninger: Nein, Namen kann ich nicht liefern. Ich bin aber überzeugt, dass
es Mittäter gab. Vier mutmaßliche Unterstützer sind ja in München
angeklagt. Und wir haben an den Tatorten anonyme DNA-Spuren, die bis heute
nicht zuzuordnen sind. Da rächt sich, dass das BKA, wohl aus rechtlichen
Gründen, von den rund 100 Leute aus dem NSU-Umfeld nur von 19 die DNA in
den Datenbanken hat. Da kann ich lange abgleichen, ohne einen Treffer zu
erzielen.
Das heißt: Da draußen sitzen unerkannte NSU-Mittäter, die bis heute eisern
schweigen?
Binninger: Das ist die logische Schlussfolgerung. Das ist aber auch nicht
so überraschend. Von der zweiten und dritten RAF-Generation schweigt auch
der Großteil. Da wissen wir etwa bis heute wenig über die Morde an
Rohwedder oder Herrhausen. Aber bloß, weil Täter, die an Morden beteiligt
waren, kein Mitteilungsbedürfnis verspüren, heißt es nicht, dass es sie
nicht gibt.
Pau: Das ist ja gerade das Beunruhigende. Gerade jetzt, wo das
gesellschaftliche Klima wieder so verroht und die Zahl rechtsmotivierter
Gewalttaten einen neuen Höhepunkt erreicht hat: Wer sagt mir denn, dass
nicht Mittäter noch aktiv oder längst wieder Zellen unterwegs sind? Die
Strukturen, die dem NSU geholfen haben, sind ja weiter aktiv da – etwa das
Combat18-Netzwerk, dessen frühere Protagonisten offensiv bei einem
Aufmarsch in Dortmund auftraten. Deshalb kritisiere ich, dass sich die
Bundesanwaltschaft so früh auf ein vermeintlich abgeschottetes Trio
festgelegt hat und gegen das Umfeld und namentlich bekannte Unterstützer
nur mit angezogener Handbremse ermittelt.
Bundesanwalt und Zschäpe-Ankläger Herbert Diemer war der letzte Zeuge in
Ihrem Ausschuss – und bestritt dies: Es werde sehr wohl nach Mittätern
gesucht. Nur bisher ohne Erfolg.
Pau: Na ja. Nehmen wir den Anschlag auf den Laden der iranischstämmigen
Familie in der Kölner Probsteigasse. Dort sagen die Opfer: Derjenige, der
die Bombe ablegte, sei weder Böhnhardt noch Mundlos gewesen. Dafür gibt es
ein Phantombild, das genau auf einen Kölner Neonazi und V-Mann passte. Und
was ist passiert? Der Mann wurde nicht mal befragt. Unter Sorgfalt verstehe
ich etwas anderes.
Binninger: Mein Eindruck von Herrn Diemer aber war, dass die
Bundesanwaltschaft nicht mehr ganz so fest an ihrer Trio-These festhält.
Sie scheint inzwischen offener dafür, dass es noch mehr Unterstützer oder
Mittäter gab.
Pau: Was wohl auch unserem Druck zu verdanken ist.
Binninger: Ja, das kann man unserem Ausschuss zugutehalten: Er hat noch mal
Ermittlungsaktivitäten ausgelöst. Die DNA-Spuren werden jetzt noch mal
genauer vom BKA angeschaut, endlich auch die Spuren vom Wohnmobil, mit dem
wohl Mundlos und Böhnhardt nach Heilbronn fuhren.
Ihren Ausschuss trieben auch die V-Leute im NSU-Umfeld um. Ihre These: Sie
wussten mehr als bisher bekannt. Haben Sie dafür jetzt Beweise?
Pau: Wir wissen inzwischen klar, dass das NSU-Kerntrio von V-Personen
umzingelt war. Insofern ist es für mich sehr unwahrscheinlich, dass es
nicht auch Informationen über den Verbleib und die Vorhaben des Trios gab.
Binninger: Da stimme ich zu, alles andere wäre lebensfern. Es gab V-Leute
in den rechten Szenen von Jena, Chemnitz und Zwickau – überall, wo auch das
Trio war. Die Städte sind nicht allzu groß. Da anzunehmen, über 13 Jahre
wusste niemand, wo die drei waren, halte ich für ausgeschlossen. Und man
darf nicht vergessen: Das Trio war nicht ja nicht wirklich im Untergrund.
Im Untergrund war die RAF, und die war in der DDR oder im Jemen. Zschäpe,
Mundlos und Böhnhardt fuhren in den Urlaub, schlossen Bekanntschaften,
gaben Handynummern weiter. Nur ihre richtigen Namen haben sie nicht mehr
verwandt.
Aber alle Kontaktleute hielten dicht?
Binninger: Für mich gibt es zwei Varianten. Entweder die V-Leute haben ihr
Wissen für sich behalten. In der Szene galt ja die Order: Keiner weiß was
über die Untergetauchten, keiner sagt was. Oder die V-Leute haben es ihren
V-Mann-Führern erzählt und die konnten es nicht einordnen.
Pau: Dass der Verfassungsschutz keine Hinweise hatte, stimmt ja nicht. Die
Frage ist: Was wurde damit gemacht? Ich erinnere an das Szeneheft „Weißer
Wolf“, in dem es hieß: „Vielen Dank an den NSU.“ Aber niemand beim
Verfassungsschutz will sich die Frage gestellt haben, was das eigentlich
sein soll? Das halte ich nicht für glaubwürdig. Wir wissen inzwischen, dass
es in allen rechtsterroristischen Strukturen V-Leute gab – und gleichzeitig
behaupten die Verfassungsschutzämter, es gäbe gar keinen Rechtsterrorismus.
Ihr Ausschuss hat sich intensiv mit dem V-Mann Ralf „Primus“ Marschner
beschäftigt. Der wohnte in Zwickau, als auch das NSU-Trio dort wohnte, und
soll laut Zeugen Uwe Mundlos in seiner Baufirma beschäftigt haben. Hätte er
zum Trio führen können?
Pau: Ich halte es zumindest für möglich. Die Zeugen, die wir dazu im
Ausschuss hatten, waren für mich sehr glaubwürdig.
Binninger: Das fand ich auch. Sehr seriös, sehr realitätsnah, keine
Übertreibungen.
Pau: Warum die Bundesanwaltschaft im Fall Marschner so früh den Aktendeckel
zugeklappt hat, erschließt sich mir nicht. Marschners Belegschaft, das war
eine fast reine Neonazitruppe. Da hätte Mundlos reingepasst.
Hat auch Marschner geschwiegen? Oder vertuscht der Verfassungsschutz, dass
er mehr wusste?
Pau: Wir können es nicht sagen. Ein Problem dabei: Marschners Akte wurde
bereits 2010 im Verfassungsschutz vernichtet – vor Ablauf aller denkbaren
Aufbewahrungsfristen. Wie so viele Akten von V-Leuten, die ganz eng am
NSU-Kerntrio dran waren. Das ist schon sehr merkwürdig.
Binninger: Ich versuche fair zu bleiben. Ich habe wirklich viele
V-Mann-Akten gelesen, Hunderte Seiten, und ich habe nirgends den Begriff
Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gefunden, auch keine Synonyme. Wenn das bei
so vielen V-Leuten der Fall ist, gehe ich davon aus, dass Hinweise auf die
drei tatsächlich nicht in die Akten gelangt sind. Deshalb glaube ich: Die
V-Leute haben ihr Wissen für sich behalten. Dass der Verfassungsschutz
Hinweise bewusst nicht genutzt oder vernichtet hat, sehe ich nicht.
Pau: Aber dass vorsätzlich geschreddert wurde, das hat ja gerade unser
Ausschuss zutage gefördert. Das hat Lothar Lingen, der Verfassungsschützer,
der just am 11. November 2011, dem Tag des NSU-Bekanntwerdens, V-Mann-Akten
im Bundesamt vernichten ließ, selbst eingestanden.
Lingen behauptete: Die Akten hätten keinen NSU-Bezug gehabt. Er habe die
V-Mann-Akten nur geschreddert, um erst gar keine Fragen aufkommen zu
lassen.
Pau: Das erschließt sich mir überhaupt nicht. Zwei der V-Leute, deren Akten
vernichtet wurden, hatten enge Kontakte zu zwei in München Angeklagten, ein
weiterer V-Mann zum Combat18-Netzwerk. Wenn Lingen recht hätte, hätten die
Akten ja nachweisen können, dass dies nichts bedeutete. So aber bleiben
Fragezeichen. Dass nach dem Schreddern bisher keinerlei persönliche
Konsequenzen gezogen wurden, dass der Verfassungsschutz seit dem
NSU-Auffliegen sogar aufgerüstet wurde, das halte ich für absolut bitter.
Wenn doch so vieles unklar ist: Braucht es einen dritten
Untersuchungsausschuss?
Binninger: Dafür sehe ich im Moment keine Grundlage. Da bräuchte es schon
ganz neue Hinweise, die die Geschichte neu erzählen.
Pau: Ich würde es nicht ausschließen. Aber ja: Wir bräuchten neue Spuren.
Wenn nicht das Parlament, wer kann dann noch die offenen Fragen
beantworten?
Pau: Also, der Bundestag ist ja nicht raus. Wir werden weiter Anfragen zum
NSU und aktuellen rechtsterroristischen Strukturen stellen. Und wir werden
auch nachfragen, was aus den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft nach
weiteren NSU-Unterstützern und -Mittätern wird.
Binninger: Ich will diese Frage auch an die Stellen adressieren, die dafür
zuständig sind: die Ermittlungsbehörden. Auch dort muss der Anspruch sein:
Wir tun unverändert alles, um zur Aufklärung beizutragen.
Eine dürfte wissen, wie alles war: Beate Zschäpe.
Binninger: Sie weiß sicher mehr, als sie sagt. Nach ihrer Version haben die
Uwes ja dreizehn Jahre nur am Computer gespielt und zwischendrin mal
Tatorte ausbaldowert. Das ist so abwegig, damit braucht man sich gar nicht
zu befassen. Auf ihre Aussagebereitschaft kann man sicher nicht setzen.
25 Apr 2017
## AUTOREN
Konrad Litschko
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Bundestag
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Beate Zschäpe
Petra Pau
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Beate Zschäpe
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Rechtsextremismus
Anis Amri
Anja Sturm
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