Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schriftsteller T.C. Boyle: Ständig legt er nach
> Das Schreiben hat ihn gerettet. Er ist süchtig danach. Der Künstler T. C.
> Boyle ist Menschenfreund und Einsiedler, Patriot und Querulant.
Bild: Sucht die Kontrolle über sein Paralleluniversum: T.C. Boyle
T C. Boyle, so kommt es mir vor, schreibt über sein Land, als hätte es eine
Haut. Er zieht sie ab, legt die Organe frei. Erforscht Tumore. Und wenn er
genug hat, die Haut wieder zunäht, bleiben Narben.
Lange kenne ich nur seine Farbe, das Boyle-Grün der Taschenbücher. Dick und
dünn stehen sie im Regal meiner älteren Schwester: „Drop City“ – „Talk
Talk“ – „World’s End“ – „Riven Rock“. Ami-Titel, denke ich als …
Will sie die alle lesen?
Das erste Buch, das ich von ihm kaufe, ist rosa und ein Hardcover. Ich lese
es nicht, ich höre es – mit der Stimme meiner Mutter. Anfang zwanzig und
bettlägerig bin ich da, winsele wegen einer Mandelentzündung und zwei
Hautverbrennungen, und sie liest mir vor. Wahnsinn, finden wir damals: wie
Boyle seinen Ton mit ersten Worten setzt. Man durch lange, verschlungene
Sätze in 521 Seiten fällt: Im Nachhinein versuchte er, sich die Sache in
abstrakten Begriffen zu erklären, als Unfall in einer unfallträchtigen
Welt, als Kollision gegenläufiger Kräfte – … und weiter?
„América“ wird mein Lieblingsroman, als es ihn schon über zehn Jahre gibt:
seit 1995, düstere Prophezeiung inbegriffen. In „América“ bauen die USA
eine Mauer an der Grenze zu Mexiko.
In den Jahren danach lerne ich, dass Boyle die 50 Staaten seiner Heimat
liebt – und sie kritisiert, sooft er kann. Boyle ist beides, Patriot und
Querulant, Menschenfreund und Einsiedler. Kein Literat, sondern Künstler,
wie er betont. „Artist“. Der sein Rockstar-Image mit zerschlissenen Jeans
und Irgendwiefrisur pflegt und Journalisten auf seinem Anwesen in
Montecito, Kalifornien, mit einem Glas Weißwein in der Hand begrüßt. Wenn
er kann, zieht er sich in seine Hütte in den Bergen der Sierra Nevada
zurück und schreibt bis 15 Uhr, jeden Tag.
Boyle ist der Schriftsteller, der zu Jugendzeiten Junkie war. Ein
Aufsteiger aus der Arbeiterklasse, die Mutter Sekretärin, der Vater
Busfahrer. Beide sind Alkoholiker, beide sterben früh. Boyle spritzt Heroin
und hört irgendwann auf, weil er doch Lust aufs Leben hat. Das Schreiben
rettet ihn, sagt er. „Du reißt dir die Brust auf, schwitzt, haderst und
blutest, und am Ende hast du etwas in der Hand.“ Dieses Gefühl am Ende –
und in der Mitte, wenn er in einen meditativen Zustand gerät und vergisst,
dass er arbeitet, Kontrolle über sein Paralleluniversum erhält – macht ihn
süchtig.
17 ist er, als er sich den Zweitnamen Coraghessan gibt, nach einem
Vorfahren aus Irland. Aus Tom wird „T. C.“, und T. C. wird mein einziger
Kumpel, den ich noch nie getroffen habe. Ich vertraue ihm blind. Ständig
legt er nach, alle zwei Jahre ein Buch. T. C. kommt in meinem Rucksack mit,
er wird der Sound meiner Reisen und anschließend der meiner Erinnerung.
„Wenn der Fluss voll Whisky wär“: Sardinien 2015. „Hart auf hart“:
Sardinien 2016.
Ostsee 2015: Die Kritiker verreißen „San Miguel“, mal mehr, mal weniger
nett. Sie vermissen den Boyle-Humor, auf den er verzichtet hat, um zu
testen, ob er das kann – ein Buch schreiben, das „weder ironisch noch
lustig ist“. Und ich? Sehe Eiswagen über den Sand rollen und zeige mehr
Interesse für die raue, unwirtliche Insel San Miguel als für die, auf der
ich liege: Usedom. Meine Schwester wird mir den ersten Satz aufsagen wie
ein Gedicht: Sie hustete, immer hustete sie, und manchmal hustete sie Blut.
## Wie tierisch ist der Mensch?
Dann kommt der 16. Roman, Berlin 2016, ein netter Kritiker schenkt ihn mir.
Wir mögen ihn beide nicht. „Dschungelcamp“, findet er. Lang, finde ich. Und
das, obwohl „Die Terranauten“ Boyles Leitfragen stellt: Wie tierisch ist
der Mensch? Und wozu braucht er ein Alphatier?
Animalisches und Geistiges und die feine Linie dazwischen untersucht Boyle
mit Vorliebe, genau wie das Wesen des Führerkults: In „Riven Rock“ darf der
von psychosexuellen Problemen geplagte Stanley McCormick – den es wirklich
gab – auf dem Familiengut keine Frauen empfangen. „Willkommen in Wellville�…
handelt von Dr. Kellogg, dem Cornflakes-Guru; „Die Frauen“ von den Affären
des berühmten Architekten, der Boyles Haus entworfen hat, Frank Lloyd
Wright. Und, na ja, „Hart auf hart“ – das erst auf Deutsch und dann auf
Englisch erschienen ist, weil Boyles Verleger meinte, er solle mal einen
Gang runterschalten, in den USA verehre man Autoren, die sich alle zehn
Jahre ein Buch rausquälen – heißt im Original: „The Harder They Come“.
Die „Terranauten“ nun sind vier Frauen und vier Männer, eingesperrt in ein
1,3 Hektar großes Terrarium. Eines, wie es seit den Neunzigern in Tucson,
Arizona herumsteht; als Museum gewordenes, gescheitertes
Wissenschaftsexperiment, acht Personen in einem hochmodernen,
hochverschlossenen Ökosystem überleben zu lassen. Selbstversorger und
Selbstversorgerinnen unter der Glaskuppel: Boyle hält diese Idee für irre
„sexy“. Er schreibt und schreibt und schreibt.
Und ich lese und lese und lese. Nervige Eifersüchteleien. Prüder Striptease
am Fenster zur echten Welt. Von einer zur Mutter Gottes stilisierten
Hauptfigur, die abgemagert und ohne viel medizinische Hilfe ein Kind
gebiert. Mir ist, als dränge die Moral aus jeder Zeile: Da, guckt! Ist doch
nicht so weit her mit euren Über-Ichs.
Theoretisch ist der Zeitpunkt nicht der beste, als mir Hanser, sein
deutscher Verlag, mitteilt, ich könne T. C. Boyle Ende Februar während
seiner „Terranauten“-Lesereise in Berlin interviewen.
Theoretisch bin ich überhaupt die Falscheste, um T. C. Boyle zu
interviewen. Journalismus und Fantum, heißt es, vertragen sich schlecht.
Aber was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?
## Überzeugter „Hillarian“
Objektivität ist eine Krux, das weiß Boyle so gut wie ich. Als Bush
Präsident wird, wettert er gegen Bush. Als Clinton bei den Vorwahlen gegen
Obama antritt, präsentiert er sich als überzeugter „Hillarian“. Als Clint…
gegen Trump verliert, sagt er, seine apokalyptische Literatur werde bald
von der Wirklichkeit eingeholt. „Es wird heißen: Zur Hölle mit den
Eisbären, wir brauchen Öl aus Alaska.“
Zwei Tage lang studiere ich an die hundert Interviews. Ich erfahre, welche
Autos seine drei Kinder fahren. Wie simpel und schön er die Liebe zu seiner
Frau beschreibt, „I had no choice.“ Dass er nicht müde wird, Donald Trump
als „Clown“ zu bezeichnen. Einen „Fernseh-Schmock“. „Peinlich“, ja
„beschämend“ für seine Nation.
Bald weiß ich, wo Boyle die Ratten aussetzt, die er in seinem Haus fängt,
und dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob er nun Vollzeitvegetarier ist
oder gelegentlich Fleisch isst. Ich merke mir, dass er den Müll in seiner
Straße aufliest, selbst nichts wegwirft, sondern kompostiert, und dass es
schlicht keine Antworten gibt, die er nicht gegeben hat. Einmal sitzt er
für ein Telefoninterview auf dem Hotelklo, weil das Telefon im Hotelbad
funktioniert, sein Handy aber nicht.
## Punk und Charmeur
Ich frage meine Familie, was sie ihn fragen würde. Wie ich ihn überhaupt
begrüßen soll, im 5-Sterne-Sofitel am Berliner Kurfürstendamm. In
Tagalbträumen sehe ich vor mir, wie mir das Englisch versagt, nach dem
„Hello“ nichts mehr rauskommt. Abends sehe ich YouTube-Videos und überzeuge
mich davon, dass Boyle deutlich spricht, freundlich ist, sarkastisch.
68-jähriger Punk und Charmeur.
Am Ende interessiert mich vor allem, weshalb er im Stundenrhythmus Fotos
von verregneten, deutschen Bahnhöfen und trostlosen Frühstücksbuffets
twittert. Ich bin bereit und will zur Tür, da schickt der Fotograf noch
eine SMS: Er wolle ein Porträt von Boyle machen, das „like a silent
whisper“ ist. Was ich davon halte? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber
antworte, klar, passt; öffne die Tür – dann ruft die Pressesprecherin vom
Hanser-Verlag an.
Es tue ihr furchtbar leid, höre ich sie sagen. Das sei ihr in ihrer ganzen
Laufbahn noch nicht passiert, höre ich sie sagen. Mit Boyle schon gar
nicht! Zumal ich sein letzter Termin sei, bevor er nach Zürich und dann
zurück nach Kalifornien fliege – T. C. ist krank. Er hat die Grippe.
Mister Boyle? If you read this: Please come back. I really liked your book.
13 Mar 2017
## AUTOREN
Annabelle Seubert
## TAGS
Schriftsteller
Künstler
T.C. Boyle
CRISPR
Lesestück Interview
deutsche Literatur
Schwerpunkt Überwachung
Umweltschutz
T.C. Boyle
## ARTIKEL ZUM THEMA
T. C. Boyle über Crispr-Babys: „Das ist jetzt in der Keimbahn“
In China kamen wohl die ersten gentechnisch veränderten Babys auf die Welt.
Der Schriftsteller T. C. Boyle findet: Wir sollten besser nicht Gott
spielen.
T. C. Boyle über die US-Gesellschaft: „Demokratie ist Luxus“
Der US-Schriftsteller T. C. Boyle braucht eine Routine, um seine Romane zu
schreiben. Ein Gespräch über Trump, Schlafdisziplin und das Verschwinden
des Menschen.
Literaturfestival Lit.Cologne: Dunkle Zwillinge, liebende Mütter
Romane wie beste Freundinnen: Fatma Aydemir, Tijan Sila und Takis Würger
lesen für den Debütpreis der Lit.Cologne um die Wette.
Debütroman über Gated Communities: Unterhalb der Realität
Draußen Armut, drinnen Überwachung: Juan Guses „Lärm und Wälder“ handelt
von Angst und Überlebensmodellen in der Gated Community.
T.C. Boyle über Natur und Nihilismus: „Ja, ich bin ein Sadist“
Der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle erklärt, weshalb sich das
vermeintliche Paradies schnell als Privathölle entpuppen kann.
T.C. Boyle stellt sein neues Buch vor: Die One-Man-Show
T. C. Boyle ist für seine literarische Liebe zu Umweltaktivisten, Marihuana
und Hippies berühmt geworden. Wenn er die Bühne betritt, ist der Jubel
groß.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.