# taz.de -- T.C. Boyle über Natur und Nihilismus: „Ja, ich bin ein Sadist“ | |
> Der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle erklärt, weshalb sich das | |
> vermeintliche Paradies schnell als Privathölle entpuppen kann. | |
Bild: Paradies oder Hölle? Das hängt ganz von den Bewohnern ab. | |
taz: Mister Boyle, träumen Sie davon, auf Ihrer eigenen Insel zu leben? | |
T. .C. Boyle: Ich denke, jeder hat diesen Traum. Weil jeder Mensch ohne | |
Regeln und Vorschriften leben möchte oder – noch besser – diese Regeln | |
selbst festlegen will. | |
Die Insel San Miguel, auf die Sie in Ihrem neuen Roman drei Frauen | |
schicken, ist die unwirtlichste der Kanalinseln vor der südkalifornischen | |
Küste, ein Eiland fernab jeder Zivilisation, über das ein kalter Wind | |
pfeift. | |
Ja, ich gebe es zu, ich bin ein Sadist. In „San Miguel“ denke ich darüber | |
nach, wie es ist, außerhalb der Gesellschaft zu leben. Welche Freuden | |
dieser Zustand bereithält, aber auch was für Probleme entstehen. | |
Ist die Botschaft Ihres Buches: Vorsicht mit Träumen, denn das | |
vermeintliche Paradies, die eigene Insel kann sich leicht als Privathölle | |
entpuppen? | |
Es ist nicht meine Aufgabe, die Botschaft meiner Bücher zu verkünden. Aber | |
ich muss zugeben, dass mir diese Interpretation gefällt. Ich erzähle in | |
„San Miguel“ ja zwei Geschichten, die tatsächlich passiert sind: Marantha | |
wird mit ihrer Tochter Edith auf die Insel verschleppt von ihrem Mann, | |
einem im Bürgerkrieg verletzten Exsoldaten, und leidet dort fürchterlich, | |
sie hasst die Natur. | |
50 Jahre später wird Elise auf die Insel verschleppt von ihrem Mann, einem | |
im Ersten Weltkrieg verletzten Exsoldaten, blüht aber dort auf. Sie war | |
eine alte Jungfer, eine Bibliothekarin aus New York, aber sie nimmt ihr | |
neues Leben voller Begeisterung an und liebt die Natur. Als ich bei den | |
Recherchen zu „Wenn das Schlachten vorbei ist“ … | |
Ihrem letzten Roman, der ebenfalls auf diesen Inseln spielt … | |
Als ich auf diese beiden Geschichten mit ihren Parallelen gestoßen bin, | |
wusste ich, dass ich daraus einen Roman machen musste. Denn es geht ja um | |
viel mehr, um den Pioniergeist, der die amerikanische Psyche immer noch | |
bestimmt. Es geht auch – wie oft bei mir – um ökologische Probleme und die | |
Überbevölkerung. | |
Wie wichtig ist es, den Ort zu kennen, an dem eine Geschichte spielt? | |
Das hängt von der Geschichte ab. Man kann sich auch alles ausdenken. Aber | |
bei den beiden Romanen, die auf den Kanalinseln spielen, war es sehr | |
wichtig, da mal rauszufahren, um möglichst viel über die Ökologie der | |
Inseln zu erfahren. Auf Santa Cruz und Anacapa war ich mehrere Male, ich | |
habe auch dort gezeltet mit den Biologen, die dort forschen. | |
Auf der anderen Seite: Als ich „Dr. Sex“ schrieb, bin ich nach Bloomington, | |
zur University of Indiana, gefahren, weil Alfred Kinsey dort gelebt und | |
gelehrt hat. Ich war eine Woche dort, hab mir die Bibliothek angesehen, hab | |
mir angesehen, wo er gelebt hat, hab mit ein paar Leuten gesprochen – und | |
das war’s. | |
Für „Drop City“ bin ich einen Monat nach Alaska gefahren, aber vor allem, | |
weil ich immer schon mal nach Alaska wollte. Das allermeiste, was ich da | |
erlebt oder herausgefunden habe, habe ich dann nicht im Buch verwendet, | |
aber es ist mir schon wichtig, ein Gefühl für den Ort zu entwickeln. Aber | |
ich bin im Sommer nach Alaska gefahren, nicht im Winter. | |
Hatten Sie noch nie Probleme mit Anwälten, wenn Sie mal wieder einen | |
Menschen, der tatsächlich gelebt hat, zum Romanstoff gemacht haben? | |
Ich weiß nicht, wie die deutschen Gesetze sind, aber in den USA ist die | |
Gesetzeslage so: Über Tote oder öffentliche Figuren darf man schreiben, was | |
man will. Ich könnte einen Roman schreiben, in dem Barack Obama Schafe | |
vergewaltigt. Auch ein Film wie „Abraham Lincoln Vampire Slayer“ ist | |
gedeckt von der freien Meinungsäußerung. | |
Ein immer wiederkehrendes Thema in Ihren Büchern, von Ihrem Romanerstling | |
„Wassermusik“ bis zu „San Miguel“ jetzt, ist der Kampf des Menschen geg… | |
die Natur. | |
Mich interessiert, wie der Mensch beschaffen ist und warum er ein | |
Bewusstsein besitzt. Denn obwohl Gott offensichtlich nur eine Erfindung des | |
Menschen ist, um mit dem Nihilismus da draußen klarzukommen, machen wir uns | |
trotzdem gerne vor, wir wären keine Tiere. | |
Wir sitzen hier in einem Hotelzimmer, sind ordentlich angezogen und | |
quatschen geschwollenes Zeug in ein elektronisches Gerät – aber wir bleiben | |
trotzdem Tiere, die den Gesetzen der Natur unterworfen sind. Diese Dualität | |
des „menschlichen Tiers“, wie uns Dr. Kinsey zu nennen pflegte, fasziniert | |
mich. Deshalb interessiert mich auch Ökologie so sehr, weil der Mensch nun | |
mal Teil davon ist. Wäre ich nicht Schriftsteller geworden, dann wohl | |
Biologe. | |
In Ihren Büchern ist die Natur zumindest bedrohlich, manchmal sogar böse. | |
Nein, finde ich gar nicht. Natur ist indifferent. Aber natürlich grenzt es | |
an ein Wunder, dass wir zwei alte Säcke hier sitzen und noch am Leben sind. | |
Es gibt Unfälle, Krankheiten und Verrückte, die Menschen auf der Straße | |
erschießen. Ich verstehe ja, dass man Gott erfunden hat, weil sonst | |
Depressionen um sich greifen würden. | |
Aber ich kann an keinen Gott glauben, alles was mir bleibt, ist Darwin und | |
das gleichgültige Universum. Der einzige Sinn des Lebens, der meiner | |
Meinung nach Sinn ergibt, ist, sich fortzupflanzen. | |
Sind Sie ein desillusionierter Umweltschützer? | |
Ja, so ist es wohl. Teil der Natur sind eben auch die bösartigen Götter des | |
Universums, die uns nur deshalb als wunderschöne Affen erschaffen haben, um | |
uns am Ende umzubringen. Ich hätte gern noch ein paar Illusionen, aber wenn | |
man die entsprechende Literatur studiert, sieht man: Es gibt keine Hoffnung | |
mehr für die Spezies Mensch. | |
Wir leben auf einem begrenzt großen Planeten mit einer unbegrenzt | |
wachsenden Bevölkerung und steuern auf eine Katastrophe zu. Das ist, muss | |
ich zugeben, schon ein wenig beängstigend. Ich hoffe nur, dass ich tot bin, | |
bevor die Katastrophe eintritt. | |
Zurück zu Ihrem Buch: In „San Miguel“ benutzen Sie eine Technik, die Sie | |
gern verwenden, den Perspektivwechsel. Wussten Sie von vornherein, dass Sie | |
die Geschichte nur aus der Sicht von Frauen erzählen wollten? | |
Da ich ein Tagebuch und eine Autobiografie, die von Frauen geschrieben | |
wurden, als Grundlage verwendet habe, war es wohl logisch, nur die Sicht | |
von Frauen einzunehmen. Als ich die ersten Kapitel schrieb, ließ ich | |
trotzdem noch einen Mann zu Wort kommen. | |
Aber nach vier, fünf Kapiteln habe ich gemerkt, dass das nicht nötig war, | |
sondern die Geschichte besser funktioniert, wenn sie nur aus | |
Frauenperspektive erzählt wird. Und zwar, weil diese Frauen zwar nicht | |
unbedingt die Opfer von Männern sind, aber alle gezwungen sind, sich in | |
Strukturen zurechtzufinden, die von Männern bestimmt werden. | |
Das war, bevor der Feminismus erfunden wurde, traditionell so, und wie sich | |
Frauen in diesen Strukturen zurechtfinden, aber auch Männer, die in den | |
Einflussbereich eines Gurus gelangen, das hat mich schon immer | |
interessiert, auch in „Drop City“, „Dr. Sex“ oder „Willkommen in | |
Wellville“. | |
Es scheint so, als würden Frauen mit der Zeit in ihren Büchern eine immer | |
stärkere Rolle einnehmen. Wie kommt’s? | |
Ja, ich bekenne mich schuldig. Als ich angefangen habe zu schreiben, waren | |
Frauen meist nur Nebenfiguren. Damals pflegte meine Frau zu sagen: Deine | |
Frauenfiguren sind flach. Ich konterte dann immer: Ja, aber meine | |
Männerfiguren auch. | |
Tatsächlich war ich anfangs nicht wirklich an Charakteren interessiert, | |
sondern mehr an Storydesign, Sprache und Ideen. Das hat sich erst im Laufe | |
der Zeit verändert. Das war eine Herausforderung, die ich mir mit „San | |
Miguel“ bewusst gestellt habe: Kann ich einen historischen Roman schreiben | |
aus der Sicht von Frauen und ohne ironischen Unterton? | |
Eine andere Herausforderung, der Sie sich zu stellen scheinen, ist die, | |
unsympathische Figuren zu schaffen, mit denen sich der Leser trotzdem | |
identifiziert. | |
Es gibt ja kein Gesetz, dass Romanhelden sympathisch sein müssen. Aber ich | |
glaube, es ist genau umgekehrt. Ich würde gern mal einen Roman schreiben | |
mit einem ungebrochenen, guten Helden, der nur Gutes tut. Aber ich tue mich | |
anscheinend leichter, über Menschen zu schreiben, die Fehler haben. | |
Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich weiß, wie das kommt. Ich schreibe | |
keine Pläne, was in meinen Büchern passieren soll. Ich bin kein Architekt, | |
der einen Plan zeichnet, wie das Haus aussehen soll. Ich baue zwar in | |
gewisser Weise auch ein Haus, aber ich fange mit der Haustür an und gehe | |
dann durch, um zu sehen, was ich dahinter finde. | |
Wie sieht die Haustür aus, durch die Sie als nächste gehen? | |
Das Haus ist schon fertig. Ich habe das Manuskript eben zu meinem Agenten | |
geschickt. Es heißt „The Harder They Come“ und ist mein Gegengift zu „San | |
Miguel“. Es spielt im Norden von Kalifornien, ist zeitgenössisch und | |
handelt ausnahmsweise mal nicht von Frauen, sondern von amerikanischer, | |
sehr männlicher Gewalt. Die Hauptfigur ist ein um sich schießender | |
Amokläufer. | |
12 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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