# taz.de -- Debatte Leben im Kapitalismus: Friede, Freiheit, Pustekuchen | |
> Höher, weiter, schneller – besser? Die Versprechen des Kapitalismus haben | |
> sich ins Negative verkehrt. Es wächst nur die Sehnsucht nach | |
> Gemeinschaft. | |
Bild: Ein Leben im ständigen Wettbewerb macht selbst den Gewinner nicht glück… | |
Den Menschen in der Mitte der westlichen Industrienationen wurden in den | |
sechziger Jahren zwei große Versprechungen gemacht, die aus einer | |
untrennbaren Verknüpfung von Demokratie und Marktwirtschaft entwickelt | |
wurden. Das erste Versprechen betraf die ökonomische Situation. | |
Es besagte, dass sich ein allmählicher, aber kontinuierlicher und mehr oder | |
weniger sicherer Aufstieg für alle erzielen ließe. Konkret sollte es | |
bedeuten, dass auch Arbeiter in den Genuss der Segnungen kommen würden, die | |
vordem der Mittelschicht vorbehalten waren, vom Einfamilienhaus bis zur | |
Ferienreise, während diese Mittelschicht die eine oder andere Scheibe vom | |
Luxus abbekommen sollte, den die Besserverdiener ihr vorgelebt hatten. | |
Das Versprechen einigte auch die Generationen, denn es umfasste die | |
Aussicht, dass die jeweils nächste Generation es besser haben sollte als | |
die vorherige. Des Weiteren umfasste dieses Versprechen auch | |
Aufstiegsmöglichkeiten für die vordem Benachteiligten, die Frauen (immer | |
noch), die Migranten, sexuelle Minderheiten, anders Begabte. So sähe eine | |
Gemeinschaft des vernünftigen Wohlstands aus. | |
## Ein regenbogenbuntes Leben | |
Das zweite große Versprechen dieser Zeit war: Freiheit. Das meinte sowohl | |
eine Fortentwicklung der demokratischen Institutionen und Diskurse („Mehr | |
Demokratie wagen!“ hieß ein Slogan von Willy Brandt, bevor man ihn aus dem | |
Amt intrigierte) als auch eine liberale Gesellschaft, in der jeder nach | |
seiner Fasson glücklich werden könnte. | |
Toleranz wäre das oberste Gebot des Zusammenlebens, und niemand müsste | |
fürchten, wegen seiner Religion, seiner Überzeugung, seines Geschmacks | |
angefeindet oder ausgeschlossen zu werden. Ein regenbogenbuntes Leben ward | |
versprochen, in dem jede und jeder in seiner Erzählung und seinem Style | |
leben konnte und in dem Konflikte durch saubere, freundliche politische und | |
kulturelle Diskurse beigelegt werden würden. So sähe eine Gemeinschaft der | |
vernünftigen Freiheit aus. | |
Wer indes an diese beiden Großversprechen des demokratischen Kapitalismus | |
nicht glauben wollte, konnte nur als Spielverderber gelten, als jemand, der | |
aus dem einen oder anderen Grund nicht Mitglied dieser glücklichen | |
Doppelgemeinschaft sein wollte. Der Mehrheit aber musste, mit einigen | |
Abstrichen hier und da, diese Zukunft durchaus erfreulich erscheinen | |
(höchstens ein bisschen langweilig hätte sie werden können); man konnte | |
sich ihr mit einem gewissen Grundvertrauen überlassen. | |
Aber, oh weh, diese Zukunft von Wohlstand in Frieden und Freiheit (wie sie | |
die Wahlplakate allen Ernstes zu grinsenden Politikern und blühenden | |
Landschaften verkündeten) trat niemals ein, denn das doppelte Versprechen | |
war an mehrere Voraussetzungen gebunden, die man damals gern ein wenig | |
vernachlässigte. | |
## Das Doppelversprechen erwies sich als Falle | |
Die erste war ein kontinuierliches und einigermaßen gleichmäßig verteiltes | |
wirtschaftliches Wachstum, das man, nach dem Bericht des Club of Rome, | |
hoffte, auch ein wenig ökologisch einhegen zu können. Die zweite war die | |
Abwesenheit ernster Bedrohungen von innen und von außen. Gewiss fehlte es | |
nicht an Zeichen, dass dieses doppelte Versprechen des demokratischen | |
Kapitalismus entweder nicht einzuhalten war oder aber nur auf Kosten von | |
anderen. Einige, sehr schlecht gelaunte Menschen begannen von „Betrug“ zu | |
sprechen. | |
In Wirklichkeit, und das bemerkte man erst ein, zwei Generationen später, | |
waren diese Versprechungen des demokratischen Kapitalismus auf moralische | |
und vernünftige Weise gar nicht einzulösen. Schlimmer noch: Das | |
Doppelversprechen erwies sich als Falle. | |
Die Hoffnung auf Freiheit in einer toleranten, liberalen und aufgeklärten | |
Zivilgesellschaft verwandelte sich in die negative Freiheit: Die Menschen | |
wurden alleingelassen – als Arbeitnehmer auf einem Arbeitsmarkt, der sich | |
nach Angebot und Nachfrage schließlich am Recht des Stärkeren ausrichtete, | |
als Konsument, wo er gefälligst als „mündiger Verbraucher“ für die | |
medizinische, ökologische, soziale und ästhetische Verträglichkeit seiner | |
Shopping-Beute selbst verantwortlich sein sollte, als Architekt einer | |
Familienbiografie, der seinem Nachwuchs nur noch mit Gewalt und privater | |
Kraft zu Ausbildung und Chancen verhelfen konnte, als Bewohner von Städten | |
zwischen Immobilienhaien und Getto-Gangstern, als „Provinzler“, die sich | |
von den urbanen Kulturen und „Eliten“ abgehängt wähnten – und so weiter. | |
## Was von Wohlstand und Freiheit blieb, war der Wettbewerb | |
Die Freiheit der Selbstbestimmung und der Toleranz hatte sich verwandelt in | |
das „Alles ist erlaubt“ (wenn es einer anbietet und der andere es bezahlen | |
kann), und auch die Hoffnung auf Aufstieg oder wenigstens Erhalt des | |
Erreichten war an diese Erlaubnis gebunden: Vielleicht nicht alles ist | |
erlaubt, aber hey, dass es irgendwer mit ehrlicher Arbeit zu etwas bringt, | |
glaubt ja kein Kindergartenkind mehr. | |
Unglücklicherweise gab es niemanden, mit dem man über die neue Situation | |
nach dem Bruch der beiden Versprechen hätte reden können. Denn die einen, | |
bald würde man sie „das linksliberale Establishment“ nennen und mitsamt | |
seiner „Lügenpresse“ aus ganzem Herzen hassen, schlossen einfach die Augen | |
und machten es sich selbst im Erreichten bequem, und die anderen feuerten | |
zu immer mehr Selbstüberwachung, Leistung, Kontrolle und Erfolgswille an, | |
zum Totarbeiten oder zum Verschwinden. | |
Was von Wohlstand und Freiheit, von den großen Versprechungen des | |
demokratischen Kapitalismus blieb, war der Wettbewerb. Im Wettbewerb aller | |
gegen alle spukte die verlorene Freiheit und lockt der Wohlstand für | |
wenige. Doch bald war auch dies klar: Ein Leben im permanenten Wettbewerb | |
macht nicht glücklich, nicht einmal die Gewinner. Es macht vielmehr müde, | |
dumm und aggressiv. Und es entwickelt sich eine große Sehnsucht nach einer | |
Gemeinschaft. | |
Nicht eine mit dem Nächsten, denn der ist ja Wettbewerber, und nicht eine | |
mit allen Menschen auf der Welt, denn was da kommt, sind immer noch mehr | |
Wettbewerber um die Reste von Freiheit und Wohlstand. Nein, es muss eine | |
abstrakte Gemeinschaft sein – in der all das Müde, Dumme und Aggressive | |
aufgehoben ist, das sich aus den gebrochenen Versprechungen ergab. | |
22 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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