# taz.de -- Spektakuläre Neuentdeckung: Chronist der Industrialisierung | |
> Weder Moore noch Bauern: Das Overbeck-Museum in Bremen-Vegesack zeigt | |
> Werke des lange vergessenen Impressionisten Leonhard Sandrock | |
Bild: Das Besondere an dem Impressionisten Leonhard Sandrock ist seine Motivwahl | |
Es ist, als könnte man die Bilder fauchen hören. Metallisches Hämmern im | |
Stahlwerk, schnaubende Lokomotiven, dazwischen Hitze, Dampf und Feuer – das | |
ist die Welt, wie Leonhard Sandrock sie im Deutschland der Jahrhundertwende | |
sah. Er bannte sie mit Öl auf Leinwand: den Lärm, den Dreck, die Hitze und | |
den Schweiß. Ein Impressionist, der sich fast ausschließlich für urbane | |
industrielle Motive interessierte. Das macht Sandrock ziemlich einzigartig, | |
ein Geheimtipp. | |
Der Unterschied zu Zeitgenossen wie etwa Fritz Overbeck ist frappierend. | |
Doch ist es ausgerechnet das Overbeck-Museum in Bremen-Vegesack, das dem | |
lange Zeit so gut wie vergessenen Maler nun eine Ausstellung widmet und | |
eine Gegenüberstellung der beiden Zeitgenossen wagt. Museumsleiterin Katja | |
Pourshirazi ist das hoch anzurechnen, denn der direkte Vergleich birgt ein | |
Risiko: Overbeck mit seinen einsamen Worpsweder Moorlandschaften schneidet | |
im Vergleich nämlich eher lahm ab. | |
Der große Ausstellungssaal ist durch Stellwände in mehrere kleine Kabinette | |
unterteilt, die thematisch unterschiedlich gewichtet sind. Hier trifft die | |
verdichtete urbane Industrielandschaft Sandrocks auf das, wie Katja | |
Pourshirazi sagt, „Städtischste, das Overbeck jemals gemalt hat“: zwei | |
menschenleere Ansichten der völlig ausgestorben scheinenden Stadt | |
Aschersleben im heutigen Sachsen-Anhalt. | |
Während bei Sandrock ständig etwas los ist, passiert auf Overbecks Bildern | |
relativ wenig und sie wirken – so gegenübergestellt – fast öde. „Sandro… | |
Ästhetik ist die der Geschwindigkeit“, sagt Pourshirazi, er malte dort, wo | |
etwas los war: vor dem Lokschuppen, in der Fabrik, im Hafen. Und im | |
Gegensatz zu Overbeck malte Sandrock auch Menschen: nicht als Porträts, | |
sondern bei ihrer Arbeit, beim Schleppen, Schmieden und Schweißen. | |
## Die Arbeiter selbst interessierten ihn nicht | |
Sozialkritische Ansätze sucht man bei ihm trotzdem vergebens, ihm ist es | |
nicht um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu tun, sondern um die | |
Tätigkeit an sich. Und obgleich dabei gelegentlich sogar die | |
Arbeiter-Ästhetik des sozialistischen Realismus mitschwingt, ist sich | |
Pourshirazi sicher: „Sandrock interessiert einfach die Dynamik der | |
Bewegung.“ | |
Auch Sandrock ist geprägt von der Freiluftmalerei des 19. Jahrhunderts. | |
„Das Innovative an ihm“, sagt Katja Pourshirazi, „ist das Motiv.“ | |
Biografisch lässt sich so gut wie nichts über ihn sagen, das wenige, was | |
bekannt ist, ist schnell erzählt: 1867 wurde er in Schlesien geboren und | |
schlug zunächst eine Militärkarriere ein. Nach einem Reitunfall verlegte er | |
sich aufs Malen, nahm Unterricht und reiste viel – ein weiterer Gegensatz | |
zu Fritz Overbeck, der „keine Reise freiwillig machte“, wie Pourshirazi | |
sagt. Zu Lebzeiten wurden Sandrocks Bilder noch ausgestellt, zwischen 1910 | |
und den 1930er-Jahren war er auf der Großen Berliner Kunstausstellung | |
vertreten. | |
Sandrock war nicht nur Industrie-, sondern auch Marinemaler. Parallel zur | |
aktuellen Ausstellung im Overbeck-Museum, das nur wenige maritime Stücke | |
zeigt, werden die Seestücke derzeit im Museum Schloss Schönebeck | |
ausgestellt. Auch hier dominieren nicht die landschaftlichen Aspekte von | |
Ebbe und Flut, Wellen und Horizont – sondern Kriegsschiffe, die etwa auf | |
kleine Segeljollen treffen, oder Hafenansichten vom Entladen großer | |
Schiffe. | |
## Ein Blick wie Liebermann | |
Die beiden Sandrock-Ausstellungen schließen mit der Wiederentdeckung dieses | |
Industrie-Impressionisten – ob beabsichtigt oder nicht – auch an die | |
aktuelle Liebermann-Ausstellung in der Bremer Kunsthalle an. Auch hier geht | |
es um einen völlig neuen Aspekt nicht nur im Werk Max Liebermanns, sondern | |
in der Kunst: einen modernen, impressionistischen Blick auf den Sport. | |
Liebermann war der erste deutsche Künstler, der sich mit Sport und Bewegung | |
etwa beim Tennis, Reiten und beim Polo auseinandersetzte und so auch zum | |
Chronisten für die Entwicklung vom Freizeitvergnügen zum modernen Sport | |
wurde – wie Sandrock zum Chronisten der Industrialisierung wurde. | |
Leonhard Sandrock starb 1945. Über die Jahre davor weiß man zu ihm bislang | |
wenig – nur, dass er im Nationalsozialismus nicht als „entartet“ galt und | |
zwischen 1933 und 1936 noch einzelne Arbeiten ausstellte. | |
Seine Bilder sind fast alle nicht datiert, es gibt keine Briefe, keine | |
Tagebuchaufzeichnungen – und keine Nachkommen. „Er gehörte nach dem Zweiten | |
Weltkrieg zur sogenannten Verschollenen Generation“, sagt der Verdener | |
Galerist Torsten Sabatier, aus dessen Sammlung die meisten Bilder der | |
Ausstellung stammen. Sein Vater hatte den Maler wiederentdeckt: Nachdem er | |
in Frankfurt/Main eingelagerte, kleinformatige Arbeiten gefunden hatte, | |
begann er mit der Sammlung. | |
## Viele Werke verschollen | |
Sabatier schätzt das Werk vorsichtig auf etwa 1.000 Werke: „Sandrock war | |
fleißig. Aber vieles davon ist wahrscheinlich im Krieg verschollen.“ Von | |
ungefähr 400 Bildern weiß Sabatier sicher, Sandrock ist zudem weltweit in | |
25 bis 30 Museen vertreten – oft allerdings nur mit wenigen Werken im | |
Magazin und nicht in der Dauerausstellung. | |
Katja Pourshirazi rechnet damit, dass sich im Zuge der aktuellen | |
Ausstellung Menschen melden werden, die ebenfalls einen Sandrock im | |
Familienbesitz haben und bislang nicht wussten, was es damit auf sich hat. | |
Dass Leonhard Sandrock trotz seiner Erfolge zu Lebzeiten so in | |
Vergessenheit geraten konnte, erklärt Pourshirazi so: „Ganz einfach: Er | |
hatte keine Kinder. Also gab es niemanden, der den Nachlass verwaltet, eine | |
Stiftung oder ein Museum gegründet hätte.“ An der Qualität zumindest kann | |
es nicht liegen: „Er hat sicherlich nicht den Stellenwert eines | |
Liebermann“, sagt Galerist Sabatier, „aber qualitativ kann er mithalten.“ | |
Bis 26. März, Overbeck-Museum, Alte Hafenstraße 30, Bremen-Vegesack | |
13 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Karolina Meyer-Schilf | |
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