| # taz.de -- Malerin Modersohn-Becker: Diese Paula und wir | |
| > Seit mehr als 100 Jahren ist Paula Modersohn-Becker tot. Zwei Frauen | |
| > haben sie gesucht – im Worpsweder Atelier von damals. Gefunden haben sie | |
| > sich. | |
| Bild: Auf Spurensuche: Autorin Jana Petersen (links) und Selbstporträts von Pa… | |
| Lena steht vor Paula. Sie steht vor einem Selbstporträt der Malerin Paula | |
| Modersohn-Becker in einem [1][Museum in Bremen]. Der Oberkörper der | |
| Künstlerin ist nackt, sie trägt eine Bernsteinkette, die Hände umfassen den | |
| gewölbten Bauch. Eine Viertelstunde betrachtet Lena das Bild, diese | |
| Madonna, dann setzt sie sich auf eine Bank davor. „Du siehst ihr ähnlich“, | |
| sage ich. Sie hört mich nicht. „Das Überzeitliche“, sagt sie, „siehst du | |
| das?“ | |
| An einem Morgen im November sind wir losgefahren nach Worpswede, hinter | |
| Bremen liegt das, meine Freundin Lena Bushart und ich, um Paula | |
| Modersohn-Becker zu suchen. Im Jahr 1876 ist sie geboren, seit mehr als 100 | |
| Jahren ist sie nun tot. Zwei Frauen auf der Suche nach einer dritten. | |
| In Worpswede hat Modersohn-Becker gelebt. Ihr Atelier ist heute ein | |
| Ferienzimmer. Dort werden wir die Bücher über sie auspacken, Tagebücher, | |
| Briefe, Bildbände, darin blättern, lesen. Wird die Müdigkeit zu groß, | |
| werden wir uns hinlegen und schlafen. Den neuen Film über Paula, der gerade | |
| [2][in den Kinos anläuft], haben wir auch dabei. Lena will in | |
| Modersohn-Beckers Atelier fotografieren. Sie hat die Rücksitze ihres Autos | |
| heruntergeklappt und Kameras, Stative, Stangen, Klemmen, Stoffe hinein | |
| gepackt. | |
| Lena jagt ihren Skoda über die Autobahn. Sie ist 35, Fotografin, rotblonde | |
| Locken, eine Tochter, alleinerziehend, alles im Griff. Wir fahren an Höfen | |
| aus rotem Backstein vorbei, Menschen harken Laub. Ein Bussard sitzt auf | |
| einem Straßenschild. | |
| „Ich les dir mal was vor“, sage ich, und hole ein Buch aus dem Rucksack, | |
| Briefe von Paula. „Die sanfte Vibration der Dinge muss ich ausdrücken | |
| lernen. Überhaupt bei intimster Beobachtung die größte Einfachheit | |
| anstreben. Das gibt Größe.“ | |
| „Das will ich für meine Bilder“, sagt Lena. | |
| „Das will ich für meine Texte“, sage ich. | |
| Kahle Birken säumen die Straße. | |
| Diese Geschichte ist vor allem eine Geschichte über die Suche. Nach dem, | |
| was Sein ist. Paulas Sein, denke ich, Lenas, meines. Und das Sein in ihren | |
| Bildern, das dann doch Wesen heißt. Auch das Wesen von Lenas Fotos, das | |
| Wesen dieses Textes. Wer etwas sucht, kann nie sicher sein, es zu finden. | |
| Ein paar widerständige Landschaftsmaler hatten sich Ende des 19. | |
| Jahrhundert in Worpswede niedergelassen und eine Künstlerkolonie gegründet. | |
| In der freien Natur malen, jenseits der Akademien, das wollten sie. Im Jahr | |
| 1897 kam Paula Modersohn-Becker zum ersten Mal hierher und 1907 starb sie | |
| hier, mit 31, kurz nach der Geburt ihres Kindes. | |
| Ich denke an eine Szene in dem Film über sie. Nachdem sie in Worpswede | |
| ankam, nahm sie Unterricht bei Fritz Mackensen, damals ein gefeierter | |
| Maler, einer der Gründer der Kolonie. Er steht hinter ihr, während sie ein | |
| Stillleben malt. | |
| „Das ist viel zu grob, Fräulein Becker“, schnauzt Mackensen, „was habe i… | |
| Ihnen beigebracht?“ | |
| „Präzision und Genauigkeit.“ | |
| „Und?“ | |
| Paula schweigt. | |
| Mackensen schnaubt. „Die Natur exakt nachbilden.“ | |
| Paula blickt ihn an. „Und meine Empfindungen?“ | |
| Mackensen nimmt ihre Hand mit dem Pinsel und biegt sie zur Leinwand. Er | |
| will ihre Striche malen. Paula wehrt sich, der Pinsel schwebt einen Moment | |
| vor dem Bild. Mackensen gibt auf. | |
| ## Das Bisdahin | |
| Es ist schon dunkel, als wir in Worpswede ankommen, vorbei fahren an Lidl, | |
| Edessa Pizza Döner Rollo Pasta, der Taverne Lakis. Sofort ist klar: Das | |
| Wesen dieses Ortes taucht nicht einfach auf zwischen pittoresken | |
| Künstlerhöfen. | |
| Hinter einer dunklen Einfahrt steht das Bauernhaus, mit Reetdach, mit | |
| Fachwerk. Drinnen ist alles schief. Verzerrt, wie Gesichter in Paulas | |
| Bildern. Vielleicht liegt es am Atelierfenster, das ins Dach geschnitten | |
| wurde und sich nun in einem stumpfen Winkel zur Wand erhebt. Vielleicht | |
| liegt es an den Wänden, die auf Höhe meiner Rippenbögen geteilt sind, wie | |
| ein Horizont, unten Kornblumenblau, oben Lagunengrün. Die Farben hatte | |
| schon Modersohn-Becker ausgewählt. Ein Eckschrank aus dunklem Holz, ein | |
| Sekretär, ein Doppelbett. Gardinen aus weißem Stoff. „Es gibt für mich | |
| nichts Schöneres, als ein Atelier zu betreten“, hatte Paula mal an ihre | |
| Eltern geschrieben, „dann bekomme ich viel frömmere Gedanken, als in der | |
| Kirche.“ | |
| Lena zieht das Kabel des Fernsehers aus der Steckdose und stellt ihn in den | |
| Kleiderschrank. | |
| „Lilienatelier“ nannte Rainer-Maria Rilke den kleinen Raum, [3][in dem | |
| Modersohn-Becker malte.] Sie hatte sich aus Paris einen Stoff mitgebracht, | |
| einen Gobelin, mit Lilien geschmückt. | |
| Rilke war im Spätsommer 1900 nach Worpswede gekommen. Er, Clara Westhoff, | |
| die beste Freundin Paula Modersohn-Beckers, und diese wurden Freunde. „Der | |
| Sommer war sehr groß.“ Hier arbeitete die Künstlerin in den Jahren, als sie | |
| mit Otto Modersohn verheiratet war. Dazwischen Reisen nach Paris. „Dies ist | |
| für mich die liebste Stube“, hatte Paula noch kurz vor ihrem Tod an Rilke | |
| geschrieben.“ | |
| Lena hat Kerzen angezündet, eine Suppe aufgewärmt, Steckrüben. Dazu Wein. | |
| Ich lese aus dem Requiem vor, das Rilke nach dem Tod der Freundin schrieb. | |
| Ich glaube dich viel weiter. Mich verwirrts, / dass du gerade irrst und | |
| kommst, die mehr / verwandelt hat als irgend eine Frau. / Dass wir | |
| erschraken, da du starbst, nein, dass / dein starker Tod uns dunkel | |
| unterbrach, / das Bisdahin abreißend vom Seither: / das geht uns an; das | |
| einzuordnen wird / die Arbeit sein, die wir mit allem tun. | |
| Wir essen jetzt Datteln mit Butter und Lena erzählt, wie sie Paula zum | |
| ersten Mal sah – im Schlafzimmer ihrer Eltern, Lena war sechs. Sie saß auf | |
| dem Bett ihrer Eltern in dem Bauernhaus im Badischen und betrachtete das | |
| Selbstporträt von Paula Becker-Modersohn, das ihre Mutter aufgehängt hatte: | |
| der Frauenkopf vor grünem Grund. „Das Bild meiner Kindheit“, sagt Lena. Sie | |
| studierte später Fotografie, ich Kunst. Das Selbstbildnis war mein Thema | |
| und ihres auch. | |
| ## Das Aufatmen | |
| Freundinnen wurden wir kurz vor der Geburt unserer Kinder. Wir saßen in | |
| ihrer Plattenbauwohnung, Hände auf den vorgewölbten Bäuchen, Blick auf den | |
| Alexanderplatz. Lena zeigte mir ihre Fotos, erzählte von ihren Reisen: | |
| Petersburg, Córdoba, Irland. Und Worpswede. Eines Tages hatte sie genug von | |
| der Stadt, packte Drucker und Rechner ins Auto, fuhr los zum Arbeiten in | |
| Modersohn-Beckers Atelier. „Das war ein Aufatmen, der Sommer bei Paula“, | |
| sagt Lena. | |
| Abends liegen wir nebeneinander im Bett, und ich denke darüber nach, wie | |
| wir Modersohn-Becker immer näher kommen – als überschritten wir eine intime | |
| Grenze. Aber sie hatte sich doch selbst nackt gemacht, keine Frau zuvor | |
| hatte es je gewagt, sich entblößt zu malen, kein Künstler zuvor hatte je | |
| einen Akt in Lebensgröße gemalt. Kurz nach ihrem frühen Tod wurden ihre | |
| privatesten Gedanken veröffentlicht, ihre Briefe und Tagebücher. Besonders | |
| junge Mädchen sollen sie gelesen haben. Mir fallen wieder Rilkes Worte ein. | |
| Das einzuordnen wird die Arbeit sein. Drei, vier, fünf Atemzüge später | |
| schlafe ich ein. | |
| Der nächste Morgen. Wir laufen durchs Moor. Lena will mich fotografieren. | |
| „Die Leute, die ich porträtiere, müssen irgendwie immer leiden“, sagt sie. | |
| Der Novemberwind frisst sich durch meinen Mantel. Lena schleppt den | |
| klobigen Kamerakoffer, Stative und eine Umhängetasche. Im Film über | |
| Modersohn-Becker gibt es eine Szene, in der die Künstlerin durch die | |
| torfige Landschaft läuft, in jeder Hand einen Koffer, ihre Staffelei | |
| geschultert, die Malmappen und die Leinwände untergeklemmt. | |
| „Hier“, sagt Lena. Sie bleibt vor einer der Birken stehen. Die Blätter auf | |
| dem Boden sind dunkelblau, an den Rändern gefroren. Über uns ein Kreischen. | |
| Verspätete Kraniche. Graugänse. | |
| Ich soll mich zwischen die Birken stellen. Nein, dort ist es besser. Nein, | |
| doch nicht. Der Wald ist nicht so, wie Lena ihn will. Zu struppig das | |
| Gebüsch. „Das Bild ist schon da“, sagt Lena, „wie in einem Traum. Es wil… | |
| dass ich es finde.“ Sie drückt ein paar Mal auf den Auslöser. Nichts. | |
| ## Das Jetzt | |
| Auf dem Rückweg zum Auto denke ich wieder an eine Szene im Film. Paula | |
| Modersohn-Becker will eine Frau aus dem Armenhaus und ihre Kinder malen. | |
| Paula steht an der Staffelei und schaut. Malt nicht. Hält es aus. Das Bild | |
| ist schon da, sie muss es nur erfassen. Die Armenhäuslerin stillt ihr Kind. | |
| Ich hätte so gern ein Bild zwischen den Birken gehabt. Aber da war keins. | |
| Vielleicht ist das hier auch eine Geschichte über den weiblichen Blick. The | |
| female gaze, wie die US-amerikanische Regisseurin und [4][Autorin Jill | |
| Soloway] es nennt. Ein Blick, der sich herantastet, der nicht wertet. | |
| Lena schleppt jetzt das ganze Zeug aus dem Auto ins Atelier. Gewebte | |
| Teppiche, bestickte Decken, Aufheller, Stative. Sie verschiebt den Tisch. | |
| Ich probiere Blusen an und Unterhemdchen, Schmuck. „Eigentlich muss das | |
| Bild nackt sein“, sagt Lena, „zumindest obenrum.“ | |
| Vielleicht liegt es daran, dass ich schon als Kind Paulas Selbstporträt mit | |
| nacktem Oberkörper faszinierend fand, aber ich habe es schon immer gemocht, | |
| mit nackten Brüsten fotografiert zu werden. Für mich war Körper die längste | |
| Zeit meines Lebens kein Begriff, er war einfach da. Jetzt, zwei Geburten | |
| später, mit fast 40, ertappe ich mich, dass ich ihn bewerte. | |
| Die Hängebäuche von Worpswede, so nannte Paulas Vater ihre Bilder – die | |
| stillenden Mütter, die Akte –, in der Sehnsucht, Paula möge doch Grazileres | |
| darstellen, vorzeigbare Eleganz. | |
| Ich denke an das Selbstbildnis mit der Bernsteinkette. Modersohn-Becker | |
| hatte es an ihrem sechsten Hochzeitstag gemalt, 30 Jahre ist sie alt. Zu | |
| dem Zeitpunkt hatte sie noch nie mit ihrem Mann geschlafen. Er wollte | |
| nicht, er hatte Angst, sie bei der Geburt zu verlieren. | |
| Sie war in Paris, als sie das Bild malte, ohne ihn. Sie hatte ihn | |
| verlassen. „Ich habe mich ganz in Otto Modersohns Hände gelegt, und habe | |
| fünf Jahre gebraucht, um wieder frei davon zu werden. Ich habe fünf Jahre | |
| neben ihm gelebt, ohne dass er mich zu seiner Frau machte“, schreibt sie an | |
| einen Freund. | |
| ## Das Schamthema | |
| Paula malt sich schwanger. Ihr Bedürfnis: ein Kind. Sie will Mutter werden. | |
| Auch ohne Mann. „Ihre Sehnsucht ist ja nur: nicht verheiratet sein“, | |
| schreibt Clara Rilke-Westhoff damals über ihre Freundin. Ich denke an den | |
| Satz, den ich in einer der Biografien gelesen habe: „Paula ist fast immer | |
| kompromissbereit, kann jedoch nur eine begrenzte Zeit gegen ihren Willen | |
| leben. Sie hält es nicht lange aus, ohne zu malen und zu schreiben.“ Das, | |
| denke ich, ist der Unterschied zwischen Wollen und Brauchen, zwischen | |
| Bedürfnis und Wunsch. | |
| Ich ziehe meine Strumpfhose ruckartig hoch. Sie reißt. „Halt, stopp“, ruft | |
| Lena, „genau so! So muss es bleiben.“ Ich wage es nicht, an mir | |
| herrunterzugucken, weil Lena gerade meine Haare arrangiert hat und ich mich | |
| nicht rühren soll, aber ich bin mir sicher: Man kann meine Schamhaare | |
| sehen. „Das ist super“, ruft Lena hinter der Kamera, „das greift voll das | |
| Schamthema auf.“ | |
| Paula hatte all die Jahre an der Seite von Otto Modersohn gearbeitet, und | |
| es gab ein Kind in der Familie, wenn auch nicht ihr eigenes: Elsbeth war | |
| drei, als Paula und Otto heirateten, seine Tochter aus erster Ehe. Die | |
| beiden haben sich sehr gemocht. Ihren Alltag hatte Paula gut organisiert: | |
| Morgens von sieben bis neun ist sie zuhause, Frühstück und Haushalt. Von | |
| neun bis eins ist sie im Atelier, dann gibt es Mittag. Pause bis drei, dann | |
| geht sie noch mal arbeiten bis sieben. Im Haushalt hat sie eine Hilfe. | |
| Elsbeth ist in der Gemeinschaft des Dorfes aufgehoben, die meiste Zeit | |
| spielt sie mit den Nachbarskindern. | |
| Einen Moment weggeträumt höre ich nun das Geräusch, das entsteht, wenn Lena | |
| die Mamiya auslöst, umso satter. „Lass mal den Bauch raushängen“, sagt si… | |
| und drückt wieder ab, „ich liebe deinen Bauch.“ Mir ist kalt. | |
| ## Das Seither | |
| „Wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann gehe ich gern“, sagt Paula in | |
| einer Szene im Film, „drei Bilder und ein Kind.“ Schöpferisches Arbeiten | |
| erfordert Zeit. Und Freiraum. Nur so kann das Vibrieren entstehen, die | |
| Resonanz, nur so kann sich das Wesen zeigen. Über beides, Freiraum und | |
| Zeit, verfügen Mütter wenig – zumal alleinerziehende. Zwischen Mutter und | |
| Kind prallen Bedürfnisse aufeinander wie Naturgewalten. | |
| Künstlerinnen vieler Generationen haben sich gegen Kinder entschieden. | |
| [5][Für Paula war das nie eine Frage]. Vielleicht, weil sie mit etwas | |
| ausgestattet ist, das manche Egoismus nennen. In ihrem Tagebuch notiert | |
| sie: „Falsche Menschenliebe lenkt ab vom großen Ziele.“ | |
| Feuchte Kastanienblätter kleben auf dem Atelierfenster, orange, braun, | |
| schwarz. Wir liegen im Bett. „Mir war immer klar, dass ich Kinder will“, | |
| sagt Lena. Und ich erzähle, wie das bei mir war, mit dem ersten Kind, das | |
| ich mit 20 bekam. Nach drei Monaten arbeitete ich wieder, meine Eltern | |
| halfen. Ich erzähle, wie ich später nach Berlin ging, um in einer Redaktion | |
| zu arbeiten, mein großer Traum. Mein Sohn kam in Hamburg in die erste | |
| Klasse. Ich pendelte. Kritik von Freunden, weil ich „das Kind zurückließ“. | |
| Die beiden letzten Jahre Modersohn-Beckers lesen sich in der Biografie wie | |
| ein Krimi: Trennung von Otto, Flucht nach Paris, Malen, Malen. Meisterwerke | |
| entstehen. Dann geht sie zurück zu ihm. „Die Hauptsache ist: Stille für die | |
| Arbeit, und die habe ich auf Dauer an der Seite Otto Modersohns am | |
| meisten“, schreibt sie in einem Brief an Westhoff. Dann wird sie schwanger. | |
| Bis zum letzten Tag vor der Geburt ist sie „in fieberhafter Arbeit“, | |
| schreibt ein Freund. | |
| Am 2. November 1907 wird ihre Tochter geboren. Es ist eine schwere Geburt. | |
| Nach vielen Stunden hören die Wehen auf, der Arzt reißt Mathilde | |
| schließlich mit der Saugglocke in die Welt. Ein Wunder, dass beide | |
| überleben. | |
| ## Das Fest | |
| Paula soll sich schonen, sie liegt im Schlafzimmer „mit dem glücklichsten | |
| Lächeln, das ich je an ihr gesehen habe“, erzählt Clara Westhoff später. | |
| Erst am 20. November darf sie aufstehen. Es soll ein Fest sein. Sie | |
| schmückt ihr Haar mit Rosen, die ihre Mutter geschickt hat, lässt den | |
| Engelsleuchter entzünden. Sie trägt ihr Neugeborenes ins Wohnzimmer, | |
| strauchelt, reicht das Kind Otto. „Schade“, sagt sie. Dann fällt sie. Ein | |
| Herzschlag, ausgelöst durch eine Embolie. | |
| Der 20. November 2016, 109 Jahre später. Die Eiche vor dem Atelierfenster | |
| hebt sich gegen den dunklen Himmel ab. Sie stand schon da, als Paula starb. | |
| Und dann denke ich, wie brutal und gefährlich das Mutterwerden vor kurzer | |
| Zeit noch war. | |
| Wir gehen zum Friedhof, finden das Grab. „Unglaublich hässlich“, sagt Lena. | |
| Sie zeigt auf die Statue. Eine halbnackte Frau, lasziv räkelt sie sich, ein | |
| Tuch über den Schultern. Ein Kind sitzt in ihrem Schoß. Die Glocken läuten. | |
| Vielleicht gab es für Paula Modersohn-Becker diesen einen Sommer 1900 mit | |
| Rilke und Clara – und alles danach war falsch. Die Ehe mit Otto, | |
| verletzende Kritiken, Hunderte Bilder, von denen sie nur ein einziges zu | |
| Lebzeiten verkaufte. Kein Sex, kein Geld, kein Kind. Und dann dieser Tod. | |
| 1906 schreibt sie an Rilke: „Mir brennt der Boden unter den Füßen.“ | |
| Ich lege einen Apfel auf das Grab und denke an einen Satz aus dem Requiem | |
| von Rilke: | |
| Doch jetzt klag ich an: / den Einen nicht, der dich aus dir zurückzog, / | |
| (ich find ihn nicht heraus, er ist wie alle) / doch alle klag ich in ihm | |
| an: den Mann. | |
| Am letzten Morgen wachen wir mit Schnupfen auf. Die Nase voll von | |
| Worpswede. Wir packen und fahren los. „Das eine Bild“, sagt Lena, „das | |
| wartet noch auf mich.“ Sie erzählt von dem Mädchen mit den roten Haaren, | |
| das sie gestern gesehen hatte. Mir war sie gar nicht aufgefallen, aber Lena | |
| hatte sich ihre Nummer geben lassen, entschlossen, sie zu porträtieren, in | |
| Paulas Atelier vielleicht. | |
| Im Auto zählen wir Orte auf, die wir bereisen wollen, vielleicht ohne die | |
| Kinder, vielleicht mit: Mongolei. Rumänien. Bochum. Texas. Ich schaue rüber | |
| zu Lena. Sie guckt nach vorn auf die dunkle Autobahn, dreht die Musik | |
| lauter, gibt Gas. | |
| 24 Dec 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.museen-boettcherstrasse.de/museen/paula-modersohn-becker-museum/ | |
| [2] http://www.paula-film.de/ | |
| [3] http://www.worpswede-ferienwohnung-paula.de/ | |
| [4] http://www.youtube.com/watch?v=pnBvppooD9I | |
| [5] http://www.artsy.net/article/artsy-editorial-why-motherhood-won-t-hinder-yo… | |
| ## AUTOREN | |
| Jana Petersen | |
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