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# taz.de -- Verdrängung in Berlin-Kreuzberg: Ein Gespenst geht um in SO 36
> Ein Buchladen, eine Bäckerei, ein Haus mit politischen Projekten – das
> sind nur die bekanntesten bedrohten Projekte im östlichen Kreuzberg.
Bild: … wünschen sich alle!
„Nun hat die Gentrifizierung auch uns erreicht.“ Diese Feststellung steht
auf einem Blatt Papier, das der Buchladen „Kisch & Co“ in eines seiner
großen Schaufenster gehängt hat. Der Laden in der Kreuzberger Oranienstraße
ist für viele Menschen eine Institution. Er bietet eine besonders große
Auswahl an Zeitschriften und Zeitungen und aufgrund seiner Größe auch viele
Literatursparten: politische wie unpolitische Sachbücher und Romane,
Berlin-Bücher, Bildbände, Reiseführer, Kinderliteratur.
Nach 20 Jahren soll nun Schluss damit sein. Die Immobilienfirma des
Milliardärs Nicolas Berggruen will den Ende Mai auslaufenden Vertrag mit
„Kisch & Co“ nicht wieder verlängern. „In einem Brief von Anfang Januar
steht, wir hätten unterschiedliche Vorstellungen über die marktübliche
Miete“, sagt Thorsten Willenbrock, einer der beiden Geschäftsinhaber.
Der 52-Jährige und die Vermieterfirma schildern der taz übereinstimmend,
dass die Hausverwaltung ein Angebot für einen neuen Fünfjahresvertrag
machte, das eine Mieterhöhung um 16 Prozent enthielt. „Das ist im Vergleich
zu anderen Fällen gar nicht mal so viel“, findet Willenbrock. „Aber es
übersteigt unsere Möglichkeiten.“
Zum einen leidet der Buchhandel generell unter der Konkurrenz von
Versandhändlern mit Internetpräsenz. Zum anderen kann er wegen der
Buchpreisbindung nicht die Verkaufspreise erhöhen. „Kisch und Co“ habe dann
ein Gegenangebot mit einer um 4,5 Prozent erhöhten Miete gemacht, berichtet
Willenbrock weiter – aber erfolglos.
## Der Nachmieter ist schon da
Die Eigentümerfirma bezeichnet ihr Vertragsangebot von 20 Euro pro
Quadratmeter nettokalt gegenüber der taz als „bewusst fair kalkuliert“: In
der Umgebung seien die Mieten deutlich höher. Sie bestätigt zudem, dass ein
Brillenhersteller bereits einen Mietvertrag für die Räume von „Kisch & Co“
unterschrieben hat.
Der Buchhändler weiß noch nicht, wie er nun vorgehen wird. Einen Ersatzraum
in der Oranienstraße zu finden sei „illusorisch“: in der ganzen Umgebung
seien die Mieten zu hoch.
Am gestrigen Donnerstag fand eine große Kiezversammlung im ebenfalls in der
Oranienstraße gelegenen Konzertsaal SO36 statt. Das Thema: mehrere bedrohte
Einrichtungen im östlichen Kreuzberg, dem einstigen Postbezirk 36. Dazu
gehört etwa das Bäckereicafé „Filou“ fast am Ende der langen Reichenberg…
Straße. Auch ihm ist gekündigt worden. Seit 2001 wird das „Filou“ von
Daniel Spülbeck und seiner Frau betrieben. Mittlerweile haben sie vier
Angestellte – und „viel Spaß“ mit dem Stammpublikum, „fast durch die B…
echt nette Leute“, wie Spülbeck sagt.
Doch Ende Juli läuft der Mietvertrag aus und die Eigentümer wollen nicht
verlängern: Der 45-Jährige sieht die Existenzgrundlage seiner Familie akut
bedroht. Da der gelernte Zimmermann und die studierte Sozialpädagogin mehr
als 15 Jahre lang nicht in ihren Berufen gearbeitet haben, habe das
Arbeitsamt ihnen nur eine Vermittlung als Helfer und als Erzieherin in
Aussicht gestellt, erklärt Spülbeck.
Dabei hätten sie sich mit den beiden Londoner Geschäftsleuten, denen das
Haus seit nicht ganz zehn Jahren gehöre und die vor nicht allzu langer Zeit
noch ein langfristiges Mietverhältnis versprochen hätten, immer gut
verstanden. Doch als jene mitteilten, dass sie den Vertrag nicht mehr
verlängern wollen, und Spülbeck nach dem Grund fragte, soll einer der
Eigentümer gesagt haben, das Bäckereicafé passe nicht mehr zum „Berlin
Spirit“. Auf Spülbecks Angebot einer Mieterhöhung soll er angemerkt haben,
er könne auf dem Markt das Vierfache der aktuellen Miete erzielen.
Auch die Lausitzer Straße 10/11, in der viele linke Initiativen und Gruppen
ihre Büros haben, ist bedroht. Für die ehemaligen Fabrikgebäude, in denen
zudem Wohnungen existieren, gab es zuletzt Verkaufs- und Umwandlungspläne.
Hier besteht aber Hoffnung: Am Mittwoch hat der Eigentümer Taekker [1][den
Verkauf gestoppt].
Sicher ist jedoch: Nach Jahren des Kampfs um Wohnraum wird es nun auch an
allen Ecken und Enden schwieriger für das Kreuzberger Kleingewerbe. Das hat
auch die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg
aufgegriffen. Am Mittwochabend stand dort ein Antrag mit dem Titel:
„Kiezvielfalt erhalten: Bäckerei Filou soll bleiben“ zur Abstimmung. Der
Text mahnt „kurze Versorgungswege und nachbarschaftliches Miteinander“ an
und spricht von „großen Problemen“ für „kleine Gewerbetreibende“.
## Selbst die CDU kämpft mit
Gestellt haben den symbolischen Antrag die Fraktionen der Grünen, der CDU
und der Linkspartei. Die Fraktionschefs der Grünen und der CDU, Julian
Schwarze und Timur Husein, seien im „Filou“ vorbeigekommen, berichtet
Inhaber Spülbeck, auch die Linkspartei schickte jemanden.
In der Nachbarschaft ist die Unterstützung ebenfalls groß – nicht nur in
Form der Transparente, die aus vielen Fenstern hängen. Das „Filou“ ist in
der etwas abgelegenen Gegend ein wichtiger Anlaufpunkt. Zu einer
Versammlung Ende Januar kamen Berichten zufolge an die 150 Menschen. In der
nahen Kirche setzten sie sich zu Arbeitsgruppen zusammen, danach zog ein
Teil vor den ans Café anschließenden Neubau, um zu protestieren. Das Haus,
das vor allem Ferienwohnungen beherbergt, gehört den gleichen Eigentümern.
Einer betreibt laut Spülbeck das Restaurant im Erdgeschoss.
„Ich war überrascht von der Intensität“, sagt er zum Protest. Der Zuspruch
habe ihm sehr gut getan, denn „die Kündigung ist demütigend“. Die Familie
fühlt sich im Kiez zu Hause. In der Umgebung verlief die Suche nach einem
Ersatzort erfolglos. Nun hofft der Familienvater auf die öffentliche
Mobilisierung.
Wie schlimm die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass der Protest Ende
Januar eskalierte: Einige Leute hätten das Restaurant betreten und dort
Parolen gerufen, schildert Spülbeck. Daraufhin kam die Polizei. Sie stellte
von einigen Menschen die Personalien fest, darunter seiner 20-jährigen
Tochter, die von jemandem im Restaurant als Rädelsführerin benannt worden
sei – obwohl sie die ganze Zeit mit ihrer Familie auf der
gegenüberliegenden Straßenseite gestanden habe. Vor einer Woche gab es eine
weitere Kundgebung vor dem Restaurant. Und am Sonntag um 12 Uhr steht die
nächste an, diesmal mit Redebeiträgen mehrerer stadtpolitischer
Initiativen.
10 Feb 2017
## LINKS
[1] /Verkauf-der-Lause-10-in-Berlin-Kreuzberg/!5383000/
## AUTOREN
Ralf Hutter
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