| # taz.de -- Gregor Gysi über Politik der EU: „Ich mache, was ich will“ | |
| > Wir müssen das Gegenstück zum Rechtsruck werden, sagt Gregor Gysi als | |
| > Chef der Europäischen Linken. Er möchte die EU sozialer machen. | |
| Bild: Findet, die Politik braucht mehr Leute „von außen“: Gregor Gysi, Che… | |
| taz: Herr Gysi, Sie haben mal gesagt, Sie könnten gar nicht Präsident der | |
| Europäischen Linken (EL) werden, weil Sie nicht genug Englisch sprächen. | |
| Haben Sie einen Kurs gemacht? | |
| Gregor Gysi: Ich habe mich schon im letzten Jahr, als ich noch gar nicht | |
| daran dachte, dieser Präsident zu werden, entschlossen, mein Englisch | |
| aufzubessern, und nehme Unterricht. Wissen Sie zum Beispiel, wann man | |
| „some“ und wann man „any“ sagt? | |
| Is there some hope for the EU or isn’t there any hope? | |
| There is some hope. Ich bin Zweckoptimist. Aber ich muss sagen, es steht | |
| trotzdem furchtbar um Europa. | |
| Inwiefern? | |
| Es gibt immer mehr Menschen, die die EU ablehnen. Zu der Frage „EU – ja | |
| oder nein“ würde ich momentan keinen Volksentscheid machen wollen, weder in | |
| Italien noch in Spanien, Griechenland oder Portugal. Auch in Frankreich | |
| wackelt das sehr. | |
| Woran liegt das? | |
| Die jetzige EU ist undemokratisch, unsolidarisch und unsozial. Gerade erst | |
| ist entschieden worden, die Austeritätspolitik der Bundesregierung auf | |
| Osteuropa auszudehnen. Die haben keine Ahnung! Ich war gerade in Ungarn. | |
| Die Leute beziehen dort extrem niedrige Löhne und Renten. Diese noch weiter | |
| zu senken, wäre geradezu abenteuerlich. | |
| In Koblenz hat sich am Wochenende die europäische Rechte getroffen und die | |
| EU ähnlich wie Sie als neoliberal und undemokratisch attackiert. Was halten | |
| Sie davon? | |
| Der mehr als beachtliche Unterschied besteht darin, dass ich die EU neu | |
| starten, umkrempeln, also retten will und die Rechten zum | |
| nationalistischen, rassistischen Nationalstaat zurückkehren wollen. | |
| Warum wollen Sie die EU überhaupt retten? | |
| Der Jugend ist doch der alte Nationalstaat gar nicht mehr zuzumuten. Die | |
| jungen Leute haben in EU-Ländern gearbeitet, dort studiert, sie haben sich | |
| Europa längst erschlossen. Die meisten sprechen ganz gut Englisch. Außerdem | |
| haben die alten Nationalstaaten politisch und ökonomisch überhaupt kein | |
| Gewicht weltweit. Mein entscheidender Grund aber ist: Es gab noch nie einen | |
| Krieg zwischen zwei Mitgliedsländern der EU, während die Kriege zwischen | |
| diesen Staaten vorher die gesamte europäische Geschichte geprägt haben. | |
| Dass sich das wiederholt, will ich unbedingt verhindern. | |
| Ist ein Auseinanderbrechen der EU überhaupt noch zu verhindern? Die Länder | |
| des Südens sind enttäuscht, weil die EU sie so knebelt, überall erstarkt | |
| die Rechte. | |
| Es gibt momentan zwei Optionen für die EU: Wenn Marine Le Pen Frankreichs | |
| Präsidentin wird, ist die EU mausetot. Das wäre der Crashfall. | |
| Und die andere Möglichkeit? | |
| Die Bundesregierung muss eine andere Politik machen. Wir müssen die | |
| Aufbauer sein, nicht die Abbauer. Will unsere Regierung wirklich in die | |
| Geschichte eingehen als die Zerstörerin der Europäischen Union? Was sie mit | |
| Südeuropa macht, ist völlig falsch. Das ist das Gegenteil vom Marshallplan, | |
| diese komische Wettbewerbsdemokratie. Als die Bundesregierung die | |
| Solidarität mit Griechenland aufgekündigte, hat sie die Solidarität in der | |
| EU zerstört. Weil sich alle Regierungen gesagt haben: Aha, so werden wir | |
| behandelt, wenn es uns schlecht geht. Wohin gegenwärtig die EU gefahren | |
| wird, macht mir richtig Sorgen, das änderte ich gern. Da entsteht in mir | |
| auch Leidenschaft. | |
| Aber die Europäische Linke, die Sie jetzt führen, steht nicht hinter Ihnen. | |
| Dort sind viele der Meinung: Weg mit der EU! | |
| Nein, die Mehrheit will eine deutliche Reform der EU. Aber zum Beispiel die | |
| portugiesische Partei hat mir erklärt, sie hält die EU nicht mehr für | |
| reformierbar. Nun muss man das verstehen. Über 50 Prozent der jungen Leute | |
| sind dort arbeitslos, auch wegen der EU. | |
| Und wie schwören Sie diese Linken nun auf die EU ein? | |
| Ich schwöre nicht ein. Aber ich habe den Portugiesen gesagt, ich weiß das, | |
| ich werde ihre Sorgen auch artikulieren, aber ich sehe es anders. Darauf | |
| haben wir uns verständigt. Ich mache das ja jetzt alles ein bisschen | |
| anders. Ich besuche die Parteien, ich führe Gespräche, ich schreibe darüber | |
| Berichte, ich verteile sie an alle Parteien. | |
| Sie wollen die EU retten, indem Sie Memos verteilen? | |
| Wissen Sie, ich würde Ihnen jetzt erzählen, wie ich das mache, aber das | |
| dürfen Sie sowieso nicht schreiben. | |
| Na, das wäre aber interessant! | |
| Ich habe eine ganz einfache Methode. Ich mache, was ich will, dann lasse | |
| ich mich beschimpfen und mache wieder, was ich will. (lacht) | |
| Als Sie noch Fraktionsvorsitzender der Linkspartei waren, haben Sie mit | |
| dieser Methode aber nur bedingt Erfolg gehabt. Auch die Linke war | |
| hinsichtlich der EU gespalten. | |
| Über 90 Prozent der Mitglieder meiner Fraktion haben gesagt, ein Austritt | |
| oder eine Auflösung der EU oder des Euro kommt nicht infrage, das | |
| diskutieren wir gar nicht. Und da kann es einzelne andere Auffassungen | |
| geben. Aber wenn ich mit der Basis der Linken spreche, bekomme ich | |
| Zustimmung. Das ist das Entscheidende. | |
| Sie wollen, dass die EU wieder sozialer wird – haben Sie ein konkretes | |
| Projekt vor Augen? | |
| Es gab mal eine soziale Grundrechtecharta. Die ist nicht verabschiedet | |
| worden, weil Großbritannien das nicht wollte. Wenn Großbritannien | |
| ausscheidet, kann man sie noch annehmen. Dann würde es ein individuelles | |
| Klagerecht für Griechen, Portugiesen und alle anderen beim Europäischen | |
| Gerichtshof geben, der dann nicht nur so ein Wettbewerbsgerichtshof wäre, | |
| sondern auch zuständig für soziale Grundrechte. | |
| Die linken Parteien haben aber überall ein ähnliches Problem. Sie erreichen | |
| große Teile der Bevölkerung gar nicht mehr. | |
| Ich weiß natürlich, in welcher schwierigen Situation die Linke in Europa | |
| ist, auch durch das Scheitern des Staatssozialismus. Aber ich will, dass | |
| sie ein Faktor wird. Wir müssen das Gegenüber zu der Rechtsentwicklung | |
| werden. Wenn wir das nicht werden, haben wir auch keine Chance. Dann | |
| bröckeln wir. | |
| Ist die Abgrenzung zu den Rechten denn momentan trennscharf genug? Sowohl | |
| was Europa angeht als auch in der Rhetorik in puncto Flüchtlingen gibt es | |
| bei der Linkspartei Anleihen bei den Rechten. Sahra Wagenknecht bekommt für | |
| ihre Kritik an der „unkontrollierten“ Grenzöffnung Beifall von der AfD. | |
| Ich werde mich jetzt nicht auf eine Debatte über Sahra Wagenknecht mit der | |
| taz einlassen. Es ist so: In den meisten Punkten stimme ich mit ihr | |
| überein. Es gibt Differenzen bei der EU, beim Euro und auch bei den | |
| Flüchtlingen. | |
| Also in den derzeitigen Kernthemen. Fühlen Sie sich denn unterstützt von | |
| Sahra Wagenknecht in Ihrer Position als EL-Vorsitzender? | |
| Kernthemen sind besonders der Frieden, die soziale Gerechtigkeit, die | |
| Steuergerechtigkeit. Sie hat unterstützt, dass ich Präsident der EL werde. | |
| Sie haben ja neben Ihrem Job als Vorsitzender der Europäischen Linken viele | |
| andere Beschäftigungen. Gerade empfangen Sie uns zwischen zwei Mandanten in | |
| Ihrem Anwaltsbüro. Wie schaffen Sie das? | |
| Ich habe jetzt in der Tat fünf Büros. Ich arbeite natürlich überall und bin | |
| meistens unterwegs. Ich diktiere immer im Auto, auf den Fahrten. Das | |
| Schlimme ist auch die Vielzahl der Termine. Ich muss aufpassen, nicht ein | |
| bisschen wirr zu werden. | |
| Noch mal zurück nach Europa: Sie haben gesagt, die Linken müssen das | |
| Gegenüber zur Rechtsentwicklung werden. Die Frage ist ja: Wie? | |
| Erstens, die Sicherheitsfrage. Ich rate meinen Leuten zu sagen, wir | |
| brauchen mehr Personal. Punkt. | |
| Die Linke muss ihre Skepsis gegenüber den „Bullen“ und dem Thema innere | |
| Sicherheit aufgeben? | |
| Wir brauchen auf Bahnhöfen, in Bussen, in Straßenbahnen mehr Personal, aber | |
| eben auch Streifenpolizei. Anders ist ein Sicherheitsgefühl bei den Leuten | |
| nicht herzustellen. | |
| Und damit sind die breiten Massen wieder bei den Linken? | |
| Nein. Das Zweite ist, wir müssen die soziale Frage lösen. Die verschärft | |
| sich doch. Innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Staaten. Wenn wir | |
| nicht mehr Gerechtigkeit weltweit herstellen, kann uns das alles um die | |
| Ohren fliegen. Und ob das dann links wird, weiß ich nicht. | |
| In den USA ist Donald Trump jetzt an der Macht. Was bedeutet das für | |
| Europa? | |
| Das ist eine Katastrophe. Trump ist der Versuch, über Abschottung Probleme | |
| loszuwerden. Das hat noch nie funktioniert. | |
| Welche Schlussfolgerungen sollte man daraus ziehen? | |
| Warum ist er denn unter anderem gewählt worden? Weil er nicht aus dem | |
| politischen Establishment kommt. Wenn wir jetzt nicht begreifen, dass wir | |
| Leute von außen brauchen, dann haben wir in zwei Jahren dieselbe Situation. | |
| Warum können wir beispielsweise nicht mal beim Bundespräsidenten einen | |
| anderen Weg gehen? Wie wäre es mal mit einem Professor? Oder einer sehr | |
| guten Künstlerin? | |
| Da sind Sie aber auch ein schlechtes Beispiel, Herr Gysi! Sie waren | |
| Linksparteichef und Fraktionsvorsitzender und stehen nun an der Spitze der | |
| Europäischen Linken. | |
| Ich bin doch einer von außen, hören Sie mal, oder? | |
| 22 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| Patricia Hecht | |
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