# taz.de -- Debatte um Nazi-Vokabular in der taz: Vom Sagen und Meinen | |
> Der taz wurde in der Debatte über den Kölner Polizeieinsatz die bewusste | |
> Verwendung von Nazi-Vokabular unterstellt. Eine Replik. | |
Bild: Rassistisch? Ja. „Sonderbehandlung“ sicher nicht | |
Unter der Überschrift „Selektion in Köln?“ legte Michael Wuliger am | |
vergangenen Donnerstag in der Jüdischen Allgemeinen dar, „wie die Berliner | |
Tageszeitung ,taz' [1][die Schoa bagatellisiert]“. Er bezog sich auf | |
[2][einen Bericht] und [3][einen Kommentar] eines taz-Autors, in denen von | |
„Sonderbehandlung“ und „Selektion“ die Rede war. Als sei dieser Vorwurf | |
nicht heftig genug, unterstellte Wuliger in seiner Kolumne „Wuligers Woche“ | |
Absicht. Kann man das so stehen lassen? Nein, das kann man nicht. | |
Die taz hatte vom Polizeieinsatz in der Silvesternacht berichtet. Anders | |
als viele, die sich später dazu äußerten, war Korrespondent Christoph | |
Herwartz selbst am Kölner Hauptbahnhof. Er schrieb auf, was er sah, und | |
ordnete es ein. Hunderte junge Männer wurden festgehalten, die der | |
Polizeikategorie „Nafri“ entsprechen: Leute, die „nordafrikanisch“ auss… | |
und als Wiederholungstäter gelten. | |
Nun kann die Polizei nicht wissen, wer in einer Gruppe junger Männer ein | |
Wiederholungstäter aus Nordafrika ist, weshalb sie sich anscheinend an | |
Äußerlichkeiten orientierte. „Am Ausgang des Hauptbahnhofs sortierte die | |
Bundespolizei nichtweiße Männer durch eine gesonderte Tür in einen | |
abgeriegelten Bereich des Bahnhofsvorplatzes“, beschrieb Herwartz den | |
Vorgang. | |
## Nicht angebrachte Begriffswahl | |
Im Rechtsstaat muss bei jeder staatlichen Maßnahme, die Grundrechte von | |
Menschen einschränkt, gefragt werden, ob der Zweck die Mittel heiligt. | |
Wuliger sieht das anders: „Weil diesmal nicht deutsche Hooligans, sondern | |
Angehörige einer ethnischen Minderheit betroffen waren, reagierte das linke | |
politische Spektrum reflexhaft mit Rassismusverdacht“, schreibt er. Und | |
weiter: „Den Vogel schoss dabei die Berliner Tageszeitung ‚taz‘ ab. Deren | |
Korrespondent Christoph Herwartz bezeichnete das Vorgehen der Polizei in | |
seinem Bericht als ‚Selektion‘. In einem Kommentar sprach er von | |
‚Sonderbehandlung‘.“ | |
Wuliger hat recht, an diesem Vokabular Anstoß zu nehmen. „Sonderbehandlung“ | |
war das Codewort der SS für die Ermordung der europäischen Juden. | |
„Selektion“ ist vielleicht kein „offizieller“ NS-Terminus gewesen | |
(Germanisten und Historiker streiten darüber), aber seit den sechziger | |
Jahren der gängige Begriff, um zu beschreiben, was SS-Männer an der Rampe | |
von Auschwitz taten, wenn sie Menschen aussortierten: Die einen wurden in | |
die Gaskammer geschickt, die anderen der „Vernichtung durch Arbeit“ | |
zugewiesen. Es ist nicht angebracht, mit solchen Begriffen den | |
Polizeieinsatz in Köln zu beschreiben. | |
Wuliger belässt es aber nicht bei einer Kritik der Wortwahl. „Redaktion und | |
Autor haben bewusst mit Vokabeln hantiert, die selbst bei kritischster | |
Beurteilung der Kölner Polizeiaktion deplatziert in jedem Sinne waren – | |
sachlich, semantisch und moralisch“, unterstellt er. | |
Wie kamen diese Begriffe in Herwartz’ Texte? „Sonderbehandlung“ wurde dem | |
Korrespondenten von einer Redakteurin in seinen Kommentar hineinredigiert. | |
Ihr war die historische Bedeutung des Begriffs nicht bekannt. Sie ist nicht | |
allein. „Sonderbehandlung“ sollte harmlos klingen, die Täter nutzten den | |
Tarnbegriff vor allem intern. Seine Bedeutung im NS-Kontext kennen viele | |
nicht, das Wort wird ständig benutzt. Über 400.000 Treffer listet Google. | |
Die Welt etwa titelte unlängst: „Sonderbehandlung für Ribéry empört den | |
BVB“. | |
## Die Lingua Tertii Imperii ist überall | |
Die Deutschen hantieren jeden Tag mit Nazi-Vokabeln. Die beliebteste dürfte | |
das Adjektiv „schlagartig“ sein, das Victor Klemperer in seinem Buch über | |
die „Lingua Tertii Imperii“ dem „Blitzkrieg“ zugeordnet hat. Man hört … | |
täglich, es findet sich in Büchern, die als Literatur gefeiert werden, und | |
steht unkommentiert in historischen Abhandlungen. Mindestens so beliebt ist | |
die Formel „im Endeffekt“. | |
Nicht unwahrscheinlich, dass auch der „Polizeikessel“ auf die | |
„Einkesselungen“ der Wehrmacht zurückgeht. Das Problematische am Fortwirken | |
solcher Begriffe ist, dass sie meist ohne Nachdenken gebraucht werden – im | |
sicheren Bewusstsein, sie seien ganz normal. Das heißt aber nicht, dass | |
nicht ständig Nazi-Begriffe in polemischer Absicht und mit | |
bagetellisierender Wirkung verwendet würden. „Friedensbewegte“ sprachen vom | |
„atomaren Holocaust“, Erbischof Dyba vom „Kinderholocaust“, Neonazis vom | |
„Bombenholocaust“. | |
Im Bericht von Christoph Herwartz heißt es: „Einen Leitfaden für die | |
Polizisten gab es bei der Selektion nicht. Eine Sprecherin der | |
Bundespolizei sagte der taz, man habe nach der ‚Klientel‘ Ausschau | |
gehalten, die man aus der alltäglichen Arbeit kenne.“ In Herwartz’ Text | |
erscheint „Selektion“ nicht in Anführungsstrichen, aber er hat das Wort, | |
wie er versichert, nicht in polemischer Absicht benutzt. | |
Es waren Polizeibeamte am Kölner Hauptbahnhof, die zuerst vom „Selektieren“ | |
sprachen, um ihr Tun zu beschreiben. Im Live-Ticker des Kölner | |
Stadt-Anzeigers vom Silvesterabend kann man um 21.32 Uhr lesen: „Die | |
Polizei […] sortiert ganze Gruppen arabisch aussehender junger Männer und | |
Jugendlichen aus. Anwesende Polizisten sprechen von ‚selektieren‘.“ Wenn | |
die Vokabel vor allem in diesem Kontext unangemessen ist, dann muss der | |
Vorwurf der Bagatellisierung auch die Polizisten treffen, die jene | |
Maßnahmen, die Wuliger vehement gegen jede Kritik und „reflexhaften | |
Rassimusverdacht“ verteidigt, selbst als „Selektieren“ bezeichnen. | |
## Falsche Gleichsetzung | |
Wuliger rechtfertigt den Polizeieinsatz mittels der oft gehörten | |
Gleichsetzung der Maßnahmen mit anderen, die die Polizei „regelmäßig vor | |
Fußballspielen“ durchführe. Diese Gleichsetzung ist falsch. Denn während | |
die einen ihre Fan-Klamotten zu Hause lassen können, ist es | |
„nordafrikanisch“ aussehenden jungen Männern nicht vergönnt, sich mal eben | |
ihrer Haut- und Haarfarbe zu entledigen. | |
Haben Redaktion und Autor ihre Worte in der Absicht gewählt, die Arbeit der | |
Polizei in Köln mit Nazibegriffen zu denunzieren? Nein, das haben sie | |
nicht. Sollte die Jüdische Allgemeine der Polizei vorwerfen, sie | |
bagatellisiere mit ihrer Wortwahl sachlich, semantisch und moralisch die | |
Schoah? Nein, das sollte sie nicht. Der Vorfall zeigt aber einmal mehr, | |
dass uns Denken und Sprache der NS-Verbrecher näher sind, als uns lieb ist. | |
„Schlagartig“ treten sie uns immer wieder entgegen. | |
9 Jan 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27420 | |
[2] /!5367151/ | |
[3] /!5367094/ | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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