# taz.de -- taz-Debattenserie Digitalisierung: Wisch – und weg | |
> Die Liebe ist die letzte große Unbekannte. Digitale Apps haben sie | |
> ökonomisiert – aber zum Glück nicht vollends gezähmt. | |
Bild: Wenn man sich mal gefunden hat, ist es egal, worüber | |
Das Internet hat vieles auf der Welt besser, freier und einfacher gemacht – | |
auch Sex. Jeder kann relativ unkompliziert und mit geringem finanziellem | |
Aufwand Sexualpartner finden, Fantasien ausleben und sich ausprobieren, | |
ohne dafür auch nur das Bett verlassen zu müssen. Für die sexuelle | |
Freizügigkeit hat die Digitalisierung ohne Frage große Fortschritte | |
gebracht. Schlechter geht es der Liebe, zumindest der romantischen. Denn im | |
Onlinedating spiegeln sich auf extreme Weise der postmoderne | |
(Selbst)optimierungsdruck, der Zwang zur Effizienz – und der Rückfall in | |
traditionelle Geschlechterrollen. | |
Lieben ist zum digitalen Business geworden. Datingplattformen setzten im | |
deutschsprachigen Internet 2015 knapp 200 Millionen Euro um, 8,4 Millionen | |
aktive Nutzer sind registriert. Die Konzepte der Anbieter variieren, das | |
Schema ist bei allen ähnlich: Jemand sucht das möglichst perfekt passende | |
Gegenüber für eine wie auch immer geartete Beziehung und präsentiert sich | |
dafür im Gegenzug als attraktiveR PartnerIn. | |
Bestes Beispiel: Tinder. Ursprünglich als App für eher Unverbindliches | |
gedacht, steht unter immer mehr Profilen „no ONS“ – nichts für eine Nach… | |
Finden zwei Nutzer einander gut, müssen sie nur jeder auf dem Touchscreen | |
das Bild des anderen nach rechts wischen; dann – und nur dann – heißt es: | |
„It’s a match!“ Was zunächst mal schnelle Erleichterung für sexuell | |
Unausgelastete verspricht, bedient auch noch viel weitergehende Sehnsüchte: | |
den maximal passenden Partner für alle Eventualitäten finden. | |
Denn Match ist das Zauberwort. 26 Millionen davon schafft Tinder laut | |
eigenen Angaben täglich weltweit. Der Gedanke dahinter: Es gibt nicht nur | |
das eine Match, die große Liebe, sondern unendliche Möglichkeiten – unter | |
denen eben nur die passenden ausgewählt werden müssen. | |
## Es passt doch alles perfekt? | |
Da Tinder mit dem Facebook-Profil verknüpft ist, sieht man sofort, was man | |
sonst nach und nach erfragen müsste: Welche Musik hörst du so, welche | |
Medien konsumierst du, und, Hand aufs Herz, findest du Jan Böhmermann | |
eigentlich lustig? | |
Wenn aber alles auf den ersten Blick abgeglichen werden kann, werden | |
Erwartungen an ein Date überhöht: Es passt doch alles perfekt – was, wenn | |
man sich dann aber trotzdem nicht versteht? Zur Liebe gehören vermeintlich | |
nicht mehr zwei, sondern eineR, dessen Wunschvorstellung und ein | |
Smartphone. Aber: Nur, weil es algorithmisch passt, heißt das nicht, dass | |
es auch menschlich funktioniert. Diese Fallhöhe ist beim digitalen Dating | |
extrem. | |
Trotzdem: Ist das nicht besser, als wenn man den anderen erst von Angesicht | |
zu Angesicht ausreichend für sich begeistern müsste? Schüchterne, | |
Workaholics, emotional Verkorkste – alle haben zunächst dieselbe | |
Ausgangslage mit denselben Möglichkeiten, sich optimal zu präsentieren. | |
Aber das macht es nur noch komplizierter. Denn man hat bei den auf | |
Effizienz getrimmten Portalen nur diesen einen Moment, um die | |
Aufmerksamkeit des potenziellen Partners zu gewinnen. Diese | |
Aufmerksamkeitsspanne wird, zwischen Arbeit, Kindererziehung, Fitnessstudio | |
und Essensfotos posten, bei den meisten immer knapper . | |
Die Folge: Im Netz wird viel schneller und härter abgeurteilt als in der | |
Realität ohnehin schon. Gefällt das Foto nicht, zählt der Rest oft auch | |
schon nicht mehr. Ein Wisch mit dem Finger genügt – schon lockt der/die | |
Nächste. Das vertieft sowohl Statusdenken als auch Geschlechterrollen. Wer | |
Arzt ist, präsentiert in gefühlt 99 Prozent der Fälle auf dem Foto sein | |
wichtigstes Merkmal: den Arztkittel. Am besten noch mit Mundschutz im OP – | |
niedergelassene Orthopäden ziehen offenbar eher weniger Frauen an. | |
Am unverblümtesten manifestiert sich die Ökonomisierung im ebenfalls | |
millionenfach genutzten elitepartner.de, wo sich überwiegend | |
AkademikerInnen tummeln. Sie suchen dort „den besonderen Menschen, mit dem | |
sie sich in einer glücklichen Beziehung gemeinsam weiterentwickeln können“. | |
„Besonders“ heißt in diesem Fall möglichst ähnlich in Sozialisation, | |
Einkommen und Interessen. Dass man keine Schufa-Auskunft hochladen muss, | |
ist bemerkenswert. | |
Über das, was wir mal Liebe nannten, sind wir offenbar längst hinweg – | |
postromantisch sozusagen. Stattdessen wird Schubladendenken als | |
Sicherheits- und Zufriedenheitsgarant zelebriert. Indem der Mensch nur noch | |
in Form von Eckdaten bewertet wird, wird jeglicher Bruch im Idealbild des | |
nächsten Partners sofort negiert. Liebe über soziale und kulturelle | |
Unterschiede hinweg ist damit endgültig nicht mehr romantisch, sondern | |
unökonomisch und deshalb out. | |
## Exegese statt Ekstase | |
Ungewissheit und Unsicherheit ertragen wir nicht mal mehr in Gefühlsdingen. | |
Fast noch schlimmer als die Rationalisierung und Kategorisierung der Liebe | |
im Digitalen ist die inflationäre Art, über sie zu sprechen. Gerade Frauen | |
leiten gerne eine Nachricht, die nicht auf Anhieb verständlich ist – und | |
wann versteht man schon, wenn es um die Liebe geht – als Screenshot zur | |
Beratung an die FreundInnen weiter. In Ratgeberforen im Netz werden | |
Gefühlsfragen mit der gleichen Analysewut und Manpower behandelt wie | |
Rotweinflecken auf Langflorteppichen. Exegese statt Ekstase. | |
Die Liebe galt als das größte Mysterium des Lebens. Wie viele Lieder, | |
Bücher, Filme handeln von ihrer Unergründlichkeit? Heute ist sie wie so | |
vieles ein Baustein in einem Lebensplan, der zum perfekten Zeitpunkt | |
eingepasst werden soll. Das Ganze ist, dem Algorithmus sei Dank, natürlich | |
auch wieder ein datentechnischer Selbstläufer. So verengt sich das | |
Beuteschema immer mehr, während man selbst davon ausgeht, überhaupt keines | |
zu haben. Es könnte jeder sein, man muss nur weiterklicken – das ist die | |
letzte Illusion von Romantik, die wir uns noch leisten. | |
Und nun? Offline gehen? Wie früher in der Kaffeeküche flirten? Man könnte | |
auch einfach mal den schlimmsten Ängsten ins Auge sehen und einen Tag lang | |
ausschließlich nach rechts wischen. Schlimmer als ein furchtbar unperfektes | |
Date mit dem perfekten Match kann es nicht werden. | |
7 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Johanna Roth | |
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