Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Armuts- und Reichtumsbericht: Selbstzensur einer SPD-Ministerin
> Alle Jahre wieder legt die Regierung ihren Armuts- und Reichtumsbericht
> vor. Vor der Bescherung werden dann die interessanten Stellen gestrichen.
Bild: Passt nicht ins Bild? Einfach streichen
Es weihnachtet sehr, Besinnlichkeit ist angesagt, auch wenn kurz davor in
öffentlich-rechtlichen Talkshows die Stimmung gegen Flüchtlinge, die den so
großzügigen deutschen Sozialstaat ausbeuten, noch einmal kräftig angefeuert
wurde. Um den Sozialstaat geht es auch in dem Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung. Denn was ist der demokratische Sozialstaat wert, wenn
er die skandalöse Ungleichheit in einer Gesellschaft nicht bekämpft? Und da
ist so ein Armuts- und Reichtumsbericht eine Gelegenheit, auf diese
Ungleichheit hinzuweisen.
Einigen wird noch in Erinnerung sein, dass für einen der letzten Armuts-
und Reichtumsberichte aus dem Jahr 2013 die damalige Arbeitsministerin
Ursula von der Leyen (CDU) verantwortlich zeichnete. In dem 549 Seiten
starken Bericht vom März 2013 war die bizarre Erkenntnis zu lesen: „Die
Bundesregierung prüft, wie weiteres persönliches und finanzielles
freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das Gemeinwohl
eingeworben werden kann.“ Und es fand sich keine einzige differenzierte
Aussage zum Reichtum Deutschlands. Na gut, könnte man sagen. Das war in
einer CDU/FDP-Regierung nicht anders zu erwarten.
Was gab es damals für eine heftige Kritik, nachdem bekannt wurde, dass
brisante Aussagen auf Druck der damals mitregierenden FDP gestrichen
wurden. Wie die Aussage, dass die Einkommensverhältnisse privater Vermögen
in Deutschland ungleich verteilt sind. Damals kritisierte SPD-Chef Sigmar
Gabriel, dass die Wirklichkeit „gefälscht, Statistiken verändert,
retuschiert und Zensur ausgeübt“ wurde. Die damalige SPD-Generalsekretärin
Andrea Nahles tobte: „Alle diese Wahrheiten – rausgestrichen, weil sie
nicht ins Weltbild passen der jetzigen Bundesregierung. Vor Fälschung wurde
hier nicht zurückgeschreckt.“ Starke Worte einer engagierten
SPD-Politikerin.
Und heute, drei Jahre später? Jetzt ist Andrea Nahles selbst
Arbeitsministerin in der Bundesregierung. Und sie legt, kurz vor der
Bundestagswahl 2017, den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung vor. Natürlich kann es unter einer SPD-Arbeitsministerin
keine Zensur geben.
Wenn die Medienmeldungen stimmen, die jetzt bekannt wurden, hat sie genau
das getan. Demnach wurde in der ersten Fassung des Berichts noch von einer
„Krise der Repräsentation“ gewarnt. Denn „Personen mit geringerem Einkom…
verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass
sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“
Diese Aussagen sind nicht mehr zu finden, genau wie die Hinweise auf den
„Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“. Und es fehlt der
Satz, der treffend die politischen Verhältnisse in Deutschland beschreibt:
„Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher,
wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit
höherem Einkommen unterstützt wird.“
Diese Aussagen beleuchten schlaglichtartig, warum gerade diejenigen
Menschen, die arm oder von Armut bedroht sind (und das sind Millionen)
entweder überhaupt nicht mehr wählen oder den rechtsradikalen und
rechtspopulistischen Heilsbringern ihre Stimme geben.
Denn eines ist ja sicher. Diese politischen Rattenfänger haben mit dem
demokratischen Sozialstaat, der Bekämpfung von Armut und Reichtum nun
überhaupt nichts zu tun. Sie sind vielmehr die autoritären Sturmspitzen der
neoliberalen Ideologie, die an der herrschenden Vermögensungleichheit, der
tiefen Spaltung zwischen Armut und Reichtum, nichts ändern wollen.
So gesehen ist die Streichung der oben erwähnten Erkenntnisse ein Indiz
dafür, dass auch die SPD anscheinend überhaupt kein politisches Interesse
hat, den rechtspopulistischen Brandstiftern das Handwerk zu legen. Schöne
Ausblicke also für die kommenden Bundestagswahlen, was die Glaubwürdigkeit
der Politik angeht.
15 Dec 2016
## AUTOREN
Jürgen Roth
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Andrea Nahles
Ursula von der Leyen
SPD
Reichtum
Bundesarbeitsministerium
Rente
Rente
Schwerpunkt AfD
Berliner Senat
Paritätischer Wohlfahrtsverband
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geschönter Armutsbericht: Regierung entfernt heikle Passagen
In der zweiten Fassung sind sie nicht mehr drin: Aussagen zum Einfluss von
Besserverdienenden auf politische Entscheidungen. So berichtet es die „SZ“.
Debatte Rentenreform: Gärtnern statt Wellnesshotel
Gegen die Altersarmut hilft nur eine Solidarrente. Dafür ist eine
Umverteilung von reichen zu armen Senioren nötig, nicht von Jung zu Alt.
Ergebnisse des „Rentengipfels“: Ein Soli für die Rente
Arbeitsministerin Nahles will das Rentenniveau mit Steuermitteln sichern.
Woher das Geld kommen soll, ist bisher noch unklar.
Debatte Deutsche Einheit: Der Preis der Freiheit
Dumme Ossis wählen die AfD? Vorsicht! Haben sie Hass und Verachtung für
Schwächere nicht im Westen gelernt? Gedanken zum 9. November.
Kinderarmut in Berlin: Und warum tut keiner was?
Jedes fünfte Kind in Berlin ist laut einem Bericht des Senats
armutsgefährdet. Auch weil es nicht gelingt, Bildung und soziale Herkunft
zu entkoppeln.
Armut in Deutschland: Sie sind jung und brauchen Geld
42 Millionen Menschen haben Arbeit – ein Rekord. Aber bis zu 20 Prozent der
Deutschen leben unter der Armutsgrenze. Experten fordern Maßnahmen dagegen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.