# taz.de -- Frauenrechte in der Türkei: An der Seite des Mannes | |
> Die Politik und Rhetorik der AKP tötet Frauen oder lässt sie verarmen. | |
> Dennoch gibt es viele AKP-Unterstützerinnen. Wie kann das sein? | |
Bild: Am 29.10. feiern die Türk*innen die Ausrufung der Republik, wie hier am … | |
Als Präsident Erdoğan vor einigen Wochen im türkischen Trabzon den Opfern | |
gedachte, die Mitte Juli während des Widerstands gegen den Putschversuch | |
ums Leben gekommen sind, fiel ein denkwürdiger Satz: „Man kann wie ein Mann | |
sterben, oder wie eine Madame. Lasst uns wie Männer sterben!“ | |
Irritierend an der Aussage ist weder der Märtyrermythos noch der | |
frauenverachtende Ton. Beides gehört nämlich unmittelbar zur Machtrhetorik | |
der Regierungspartei AKP. So landete im Bezug auf die Gleichberechtigung | |
der Geschlechter Bülent Arınç, der ehemalige Stellvertretende | |
Premierminister, schon 2015 in den Medien, als er im Parlament der | |
HDP-Abgeordneten Nursel Aydoğan entgegnete, dass sie als Frau zu schweigen | |
habe. | |
Irritierend ist vielmehr das Statement, das Familienministerin Fatma Sayan | |
Kaya wenige Tage nach Erdoğans Rede während einer Parlamentsversammlung | |
abgibt, um seinen Satz zu bekräftigen: „Ja, in der Putschnacht haben es | |
unzählige türkische Frauen bewiesen. Wir können auch sterben wie Männer.“ | |
Fatma Sayan Kaya ist übrigens die einzige Frau im Regierungskabinett. Das | |
Ministerium für Familie und soziale Politik, das sie leitet, hieß bis 2011 | |
noch Frauenministerium. Es ist nur eines von vielen Zeichen, die darauf | |
hindeuten, dass die Frau in der Türkei politisch nur noch innerhalb der | |
Familie existiert. Also an der Seite ihres Mannes. | |
## In Abhängigkeit getrieben | |
Noch in diesem Jahr wurde im türkischen Parlament ein Ausschuss gegründet, | |
der die Ursachen von Scheidungen herausarbeiten und „Strategien“ gegen sie | |
entwickeln soll. Dazu gehört etwa das Streichen des Unterhalts, der der | |
Frau nach einer Scheidung zusteht. | |
Zudem ordnen etliche Stadtverwaltungen die Schließung von Frauenhäusern an, | |
weil diese angeblich „die Institution Familie zerstören“. Die AKP-Regierung | |
mischt sich nicht nur in das Sexualleben der BürgerInnen ein, indem sie | |
ihnen vorschreibt, wie viele Kinder sie haben sollen (mindestens drei!). | |
Sie betreibt eine Politik, die Frauen verarmt und tötet. Seit die AKP 2002 | |
an die Macht kam, ist die Zahl ermordeter Frauen um 1.400 Prozent | |
gestiegen. Nur 27 Prozent aller Frauen haben heute einen bezahlten Job und | |
die Analphabetenrate unter Frauen liegt bei 10 Prozent. | |
Frauen werden in die Abhängigkeit getrieben, indem zinsfreie Kredite für | |
die StudentInnen angeboten werden, die sich entscheiden, während des | |
Studiums zu heiraten. Seit vergangenem Donnerstag wird zudem die | |
[1][Straffreiheit für Vergewaltiger und Kinderschänder im Parlament | |
diskutiert]: Der Gesetzesentwurf von sechs AKP-Abgeordneten sieht vor, dass | |
Vergewaltiger und Kinderschänder freigesprochen werden, wenn sie ihre Opfer | |
heiraten. Frauenorganisationen, darunter auch die proislamische | |
Frauenvereinigung Kadem, in deren Vorstand Erdoğans Tochter sitzt, äußern | |
große Sorge über die Konsequenzen des Entwurfs. | |
Seit Mai 2015 ist die staatliche Eheschließung nicht mehr verpflichtend für | |
die religiöse Eheschließung, was wiederum [2][den Weg für Kinderehen | |
beziehungsweise zu legalem Kindermissbrauch ebnet]. Zudem wurden mehrere | |
NGOs geschlossen, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen. | |
Abtreibungen werden selten praktiziert, obwohl sie gesetzlich bis zur | |
zehnten Woche der Schwangerschaft rechtmäßig sind – weil sie von vielen | |
Krankenhäusern nicht angeboten werden und Ärzte vielen Patientinnen | |
dringend davon abraten. | |
Die allermeisten Frauen können also nicht abtreiben, nicht fliehen und sich | |
nicht scheiden lassen. Wenn sie unglücklich in ihrer Ehe sind oder Gewalt | |
erfahren, sind sie durch die Politik der AKP gezwungen, so weiter zu leben. | |
## Gleichberechtigung durch die AKP? | |
Umso verwunderlicher ist, dass es Frauen gibt, die die AKP unterstützten. | |
Und nicht nur das. Es gibt Frauen, die sich erst mit der AKP als | |
gleichberechtigt empfinden. Um das zu verstehen, muss man in die fast | |
100-jährige Geschichte der türkischen Republik blicken. | |
Bei ihrer Gründung 1923 versprach die Republik Frauen mehr Macht durch | |
Gleichberechtigung. Mehr noch wurde die Modernisierung des Landes geradezu | |
von der „Verwestlichung“ der traditionellen Frau abhängig gemacht. | |
Der erste Schritt zu diesem Ideal, das die Türkei Europa näher bringen | |
sollte, war das Ersetzen der islamisch geprägten Kultur mit dem Laizismus. | |
So wurde 1925 die Kleidungsreform erlassen, die das Tragen traditioneller | |
Kleidung aus dem osmanischen Reich – zum Beispiel Fez und Tschador – | |
gesetzlich untersagte. Der säkulare Nationalstaat der Türkei sollte als die | |
einzige Festung der Demokratie in der islamischen Welt eine wertvolle | |
Ausnahme darstellen. | |
Und ein Teil der Bevölkerung fühlte sich durchaus wohl mit den Reformen. | |
Jedoch handelte es sich dabei um eine Minderheit, eine von der Republik | |
geschaffene, westlich geprägte Elite. Die Mehrheit fühlte sich dagegen | |
unter Druck gesetzt. Jene Frauen, die nicht dem neuen Ideal der modernen | |
türkischen Frau entsprachen, galten kaum als vollwertige Bürgerinnen. | |
Die traditionellen Teile der Gesellschaft wurden zur Unterschicht, verloren | |
ihren Platz in der Öffentlichkeit zunehmend und bewohnten kleinere und | |
ärmere Ortschaften mit schlechteren Chancen auf Erwerb, während die | |
Kemalisten die Großstädte und den größeren Anteil des Vermögens | |
dominierten. | |
## Die AKP wirkt gegen die Verwestlichung des Landes | |
Die Benachteiligung der traditionellen Teile der Gesellschaft wurde in der | |
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spürbarer. Nach dem Putsch im Jahr 1980 | |
wurde von der Militärregierung ein Gesetz in Kraft gesetzt, das das | |
Kopftuchtragen in staatlichen Einrichtungen endgültig untersagte. | |
Die Begründung: Erhaltung der laizistischen Werte. Frauen mit Kopftüchern, | |
die studierten oder als Beamte arbeiteten, hatten zwei Optionen: Sich | |
entschleiern, oder zu Hause bleiben. Viele gaben ihre Jobs auf und | |
schmissen ihr Studium, wenige entfernten ihre Kopftücher oder trugen | |
Perücken. | |
Einige Familien lehnten es ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Wer es | |
sich leisten konnte, wechselte an Hochschulen im Ausland. Doch die | |
Verletzung des Rechts auf Bildung und Arbeit brachte auch viele Menschen | |
zusammen. Der Islam politisierte sich und das Kopftuch wurde zum Symbol | |
einer Bewegung. | |
Erst 2007 wurde das Kopftuchverbot aufgehoben – von der AKP. Frauen mit | |
Kopftuch durften wieder studieren und unterrichten. Mit Staatsoberhaupt | |
Erdoğan fanden die systematisch Diskriminierten endlich einen Anführer, der | |
für Gerechtigkeit und die Macht der einfachen Leute stand. | |
In der Regierungszeit der AKP unter Erdoğan veränderten sich die | |
gesellschaftlichen Dynamiken enorm. Die AKP wirkte dem Modernisierungszwang | |
entgegen, gab den BürgerInnen das von den „Weißtürken“ verweigerte Recht | |
zurück, ihren Traditionen entsprechend zu leben – und machte ihre | |
Unterstützer teilweise reich. | |
Für die einzelnen Frauen, denen der Zugang zu Bildung jahrzehntelang | |
verwehrt worden war, stellte dies eine große Veränderung dar. In den | |
folgenden Jahren bewies die AKP jedoch, dass sie kein ernsthaftes Interesse | |
an Bildung hatte, besonders nicht an der von Frauen. Durch das neue | |
Schulsystem sinkt die Zahl der Schülerinnen. | |
Die Schulpflicht wurde zwar auf 12 Jahre erhöht, jedoch wurde das Verbot | |
einer Eheschließung für SchülerInnen aufgehoben. Die SchülerInnen, die | |
durch fehlende Kapazität keinen Schulplatz erhalten, müssen damit rechnen, | |
verheiratet zu werden, insbesondere Mädchen. | |
Blickt man auf die Zahlen, hat sich auch an den Universitäten nicht sehr | |
viel getan. Zwar stieg die Zahl der Studentinnen zwischen 2005 und 2009 von | |
980.000 auf 1,2 Millionen – doch bedenkt man demografischen Wandel und | |
wirtschaftlichen Aufschwung ist der Zuwachs verschwindend gering. | |
## Im Bus verprügelt | |
Seit dem gescheiterten Putschversuch und den darauf folgenden wochenlangen | |
„Demokratiewachen“ hat sich auch die Atmosphäre im öffentlichen Raum stark | |
verändert. Laut einer Recherche der türkischen Onlinezeitung T24 überlegen | |
sich Frauen seit Mitte Juli zweimal, was sie sich anziehen, bevor sie das | |
Haus verlassen. | |
Wie berechtigt diese Überlegungen sind, zeigt der Fall von Aysegül Terzi. | |
Am 12. September wurde die 23-jährige Krankenschwester im Bus von einem | |
Mann zusammengeschlagen. Der Grund: Er fand, sie habe zu kurze Shorts | |
getragen. Nach der enormen öffentlichen Reaktion auf den Fall wurde der | |
Täter zwar festgenommen, jedoch nach dem ersten Verhandlungstag wieder | |
freigelassen. | |
Wenn also die AKP-Regierung dafür gefeiert wird, dass sie Frauen das Recht | |
zurückgab, ihr Kopftuch aufzubehalten, sollte man nicht aus den Augen | |
verlieren, dass sie noch etwas anderes erreicht hat: Sie hat ein Land | |
geschaffen, in dem Gewalt gegen Frauen mit oder ohne Kopftuch zur | |
Normalität geworden ist. | |
21 Nov 2016 | |
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## AUTOREN | |
Sibel Schick | |
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