# taz.de -- Literatur-Illustrationen von Salvador Dalí: Mit Schubladendenken d… | |
> Peinliche Figur mit albernem Zwirbelbart oder arbeitswütiges Genie? Das | |
> Kunsthaus Stade zeigt das grafische Werk von Salvador Dalí | |
Bild: Verrücktes Genie: Salvador Dalí in einer Ausstellung in Santo Domingo, … | |
STADE taz | Natürlich hing er an meiner Wand. In Form eines Posters, | |
erworben in einem Postershop, der im Univiertel lag und in dem die | |
Studenten einkauften, um ihre Wohnungen zu bestücken. Und er fand seinen | |
Weg ungerahmt an die Jugendzimmerwand, festgehalten mit Tesafilm. War es | |
dieses giraffenartige, weibliche Wesen, dem Schubladen aus der Brust und | |
aus dem linken Bein ragen? Oder waren es nicht doch die zerfließenden, | |
tropfenden Uhren vor einer skurrilen Küstenlandschaft? Ist lange her! Ist | |
sehr lange her. | |
Irgendwie war die Welt aus den Fugen geraten und sie sollte auch ruhig aus | |
den Fugen geraten bleiben. Alles, was entsprechend bildlich auf den Kopf | |
gestellt daher kam, musste einfach gefallen, und von daher passten die | |
visuellen Angebote des Mannes mit dem so übertrieben gezwirbelten Bart, der | |
in diesen seltsamen Mänteln umherging; eine ähnlich seltsame und daher | |
rätselhafte Figur wie der Scheinriese Tur Tur aus der Augsburger | |
Puppenkiste. | |
Muss mir das jetzt peinlich sein? Diese heute so leicht absichtsvoll | |
wirkenden antirealen Bildwelten, zu der die schwülstigen | |
Hermann-Hesse-Bücher mit ihrem 08/15-Buddismus ebenso gehörten wie die | |
heute so unendlich langweilige, weil auf der Stelle tretende Musik, die das | |
verheißungsvolle Label „psychedelisch“ trug? Irgendwie schon und irgendwie | |
so gar nicht. | |
Und besser als der normierte Bravo-Starschnitt war ein Dalí-Poster an der | |
Wand allemal, und war es noch so schlecht reproduziert. Und – um die | |
Fallhöhe anzudeuten: Meine Eltern schauten „Zum Blauen Bock“, eine | |
Musiksendung mitten am helllichten Sonntag, wo ein gewisser Heinz Schenk | |
seine Gäste mit Apfelwein abfüllte, die dann trotzdem sangen und manchmal | |
auch tanzten. Es hätte also auch schiefgehen können. | |
Und ansonsten: Salvador Dalí gehört zum Kanon. Ist einer dieser Namen, den | |
man einfach parat hat, wenn man durch die Geschichte der Modernen Kunst | |
schlendert. Und alles ist bei ihm schließlich da: das Talent, die heute | |
umstrittene, aber zeitgleich immer wieder eingeforderte Fähigkeit zur | |
absoluten Selbstvermarktung, das Rätsel, ob er nun mit dem repressiven | |
Franco-Regime sympathisierte oder nicht, ob er homosexuell war oder gerade | |
nicht. Nicht zuletzt beeindruckt der ungeheure Fleiß, den der Mann an den | |
Tag legte. | |
Und so führt der Weg dieser Tage nach Stade, ins dortige Kunsthaus, das | |
gerade Dalí zeigt. Nicht seine längst unbezahlbaren und kaum ausleihbaren | |
malerischen Werke, das wäre selbst für ein Haus wie das Stader Kunsthaus zu | |
groß, das in den vergangenen Jahren für eine Stadt mit gerade einmal 46.000 | |
Einwohnern erstaunliche Ausstellungen hinbekommen hat. Stattdessen sind | |
Auszüge aus seinem grafischen Werk zu sehen, und dabei überwiegen seine zum | |
Teil mehrjährigen Illustrationsprojekte von Klassikern der Weltliteratur – | |
Dalí eben. | |
Erst mal eine Erzählung, die es vielleicht vermag, Interesse zu wecken und | |
die anfängliche Skepsis ihm gegenüber zu mildern, dafür geht es zurück ans | |
Ende der 1950er-Jahre. Da bewirbt sich Dalí nämlich bei der italienischen | |
Regierung als längst etablierter Künstler um den Auftrag, die „Göttliche | |
Komödie“ von Dante neu zu illustrieren, Kapitel für Kapitel. | |
Und Dalí – wer sonst könnte die Komödie illustrieren, wenn nicht Dalí? – | |
macht sich ans Werk, diesem textlichen Weltwerk eine bildnerische Welt | |
begleitend wie konfrontierend zur Seite zu stellen. Zeichnet, entwirft, | |
druckt und liefert erste Musterseiten ab. Die gefallen dem potenziellen | |
Auftraggeber so überhaupt nicht. Also gar nicht. Und was macht Dalí? Er | |
macht wortwörtlich sein eigenes Ding: druckt und produziert und verkauft | |
seine eigene Fassung der illustrierten „Göttlichen Komödie“. | |
100 der am Ende 300 Blätter hängen schön gerahmt im ersten Stock. Ganz | |
wunderbare Zeichnungen sind dabei, erstaunlich zurückgenommen, manchmal nur | |
Skizzen fast. Man schaut und denkt an Aquarelle, fein und wie mit leichter | |
Hand hingetuscht, aber es sind Drucke, sehr aufwändig produziert: pro Blatt | |
ein Arbeitsvorgang von 30 Druckplatten, und damit waren 30 Druckschritte | |
nötig, weil gewollt. Macht allein bei den hundert Blättern insgesamt… – | |
Dalí eben. | |
Ganz anders, jedenfalls vordergründig gesehen, seine Illustrationen zu | |
einem nicht minder berühmten Werk: dem „Don Quijote“ von Cervantes. | |
Großformatige Seiten zeigen sich, doch diesmal wie überzogen mit | |
Farbexplosionen, aus denen sich seine Figuren herauswinden: Er hat mit | |
Farbkugeln auf die Platten geschossen, hat erst den Zufall walten lassen | |
und dann beherzt eingegriffen. So hat man beides parat, das kraftvoll | |
Aufgetragene und die feingliedrigen Zeichnungen, die sich ihren Weg zur | |
Ansicht bahnen, und man ist überrascht von diesem ganz anderen Zugriff. | |
Allein diese Überraschung zu erleben, dafür lohnt sich der Ausflug nach | |
Stade. | |
Man beginnt wieder mehr als zu ahnen, dass in diesen und den noch folgenden | |
Dalí-Werken immer Dalí steckt und auch wieder nicht. Anders gesagt: Es gibt | |
eine Art sehr klar erkennbare Dalí-Grammatik – Ameisen, die aus Körpern | |
krabbeln; Wesen, die Tier oder Mensch oder beides zu sein scheinen, mit | |
oder ohne Flügel; das einzelne Auge, das allein schaut. Aber der Text, der | |
damit jeweils geschrieben wird, wird stets ein anderer. | |
Diese Beobachtung wird bestätigend angereichert, arbeitet man nun sich | |
schauend durch die Stockwerke, wo man sich nacheinander vor seinen | |
Illustrationen zu „Alice im Wunderland“, den Liebesabenteuern Casanovas | |
oder zu Sigmund Freuds sperriger Abhandlung „Moses und die monotheistische | |
Religion“ aufstellt. | |
Dazwischen, sehr geschickt eingestreut, einige wenige, aber sehr kompakte | |
Bilder wie die Daumen, die da aufmarschieren, als seien sie eigenständige | |
Wesen und die in ihrer Bilderwelt gewissermaßen seinen Markenkern | |
umschreiben: Salvador Dalí, der Surrealist. Und auch Luis Buñuels | |
Filmklassiker des surrealistischen Films, „Der andalusische Hund“, läuft in | |
einem leicht abgedunkelten Nebenraum und lässt einen noch mal eintauchen in | |
die damals in Barcelona abgedrehte Welt voller Symbole aus Kirche, | |
Liebesleben und Straßenszenerien, die es zu dechiffrieren wie zu | |
verschlüsseln gilt, so dass der Rasierklingenschnitt durchs Auge so gut | |
passt. | |
Doch, schon okay, dieser Dalí. Schon gut, was er immer wieder aufs neue | |
probiert und auch riskiert hat, wenn man auch noch immer etwas braucht, um | |
mit ihm warm zu werden und man immer noch ein wenig fremdelt, fast bis | |
zuletzt. Aber so ist das eben manchmal, wenn man sich erst nach vielen | |
Jahren wiedersieht. | |
Am Ende, bevor es wieder die Treppen hinuntergeht, schaut man dann doch | |
genauer auf das große Schwarz-Weiß-Foto, dass über dem Treppenaufgang | |
seinerseits wie ein Poster prangt: Da sitzt er inmitten der | |
surrealistischen Männergesellschaft von 1933; jung, schmal, ein dünner | |
Oberlippenbart ziert ihn und unzweifelhaft hübsch ist er neben Max Ernst | |
und Andre Breton und Man Ray und all den anderen von damals. In schnieken | |
Anzügen sitzen sie da, das Haar ordentlich frisiert, was einen ja von | |
Anfang an irritiert hat: dass diese Männer, die auf je ihrem Felde so | |
brachial mit den Traditionen und Vorgaben brachen und daraus neues Wildes | |
schufen, selbst so brav und seriös ausschauten – und Dalí macht da noch | |
keine Ausnahme, was sich ja ändern wird. | |
8 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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