| # taz.de -- 9. Berlin-Biennale: (K)ein Sturz ins Bodenlose | |
| > Rückkehr ins Proseminar über virtuelle Realität: Das New Yorker | |
| > Künstlerkollektiv DIS hat die 9. Berlin-Biennale gestaltet. | |
| Bild: Für Männer wie Frauen gedacht: Unisextoilette des amerikanischen Archit… | |
| Der Jakob-Mierscheid-Steg ist eine hundert Meter lange, schmale Brücke, die | |
| das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus im Berliner Regierungsviertel mit dem | |
| Paul-Löbe-Haus verbindet. In luftiger Höhe über dem Spreebogen können die | |
| Abgeordneten zwischen den zwei Parlamentsgebäuden wechseln. Man wundert | |
| sich, dass das New Yorker Künstlerkollektiv DIS die filigrane Brücke nicht | |
| zu einem der Ausstellungsorte der 9. Berlin-Biennale gemacht hat, die am | |
| Freitag ihre Tore öffnete. | |
| Nicht nur, weil der kleine Steg direkt über einem Fährboot auf der Spree, | |
| einem der Ausstellungsorte, schwebt. Sondern er belegt auch ihre kritische | |
| Analyse, wie sehr die Gegenwart inzwischen „dem Beharren auf Fiktionen | |
| entsprungen“ ist. Denn das real existierende Bauwerk ist nach einem | |
| fiktiven Abgeordneten benannt, der freilich schon 1979 in Bonn erfunden | |
| wurde, ein Scherz von SPD-Genossen. | |
| Weswegen die DIS-Erkenntnis nicht wirklich neu ist. Die Macht der Fiktionen | |
| beginnt nicht erst mit dem Netz – Dreh- und Angelpunkt der | |
| Post-Internet-Art, die Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David | |
| Toro in den Mittelpunkt ihrer Schau gestellt haben. So ergeht es einem oft | |
| auf dieser Biennale. Das DIS-Quartett schüttet ein Füllhorn cooler Thesen | |
| aus, wie der „Post-Gegenwart“, der „Paradoxie des Virtuellen als Realen“ | |
| und des „Universellen, das in eine Vielzahl von Unterschieden | |
| aufgesplittert“ ist. Ganz so „breaking“ sind sie dann doch nicht. Und ihre | |
| Spiegelung in der Kunst fällt eher mau aus. | |
| ## Sturz ins Bodenlose | |
| Das plötzliche Gefühl des Sturzes ins Bodenlose beispielsweise, wenn man | |
| auf der Dachterrasse der Akademie der Künste am Pariser Platz das Headset | |
| aufsetzt und in die 3-D-Animation des kanadischen Künstlers Jon Rafman | |
| eintaucht, erfährt man weniger als heilsame „Kollision zwischen Fiktion und | |
| Wirklichkeit“. Eher fühlt man sich in ein Proseminar über Virtuelle | |
| Realität im Kunstgeschichtsstudium der 90er Jahre zurückversetzt. | |
| Für DIS sind Kunst und ihr kommerzielles Gegenteil heute nicht mehr zu | |
| trennen. Am überzeugendsten fällt ihr Versuch, „die Betrachter über die | |
| kommerzielle Oberfläche so anzusprechen, dass sie sich veranlasst fühlen, | |
| sich kritisch mit der dahinter verborgenen Problematik | |
| auseinanderzusetzen“, – so erklärten sie es in einem Interview – in den | |
| „Lichtkästen“ im Eingang der Akademie der Künste aus. | |
| ## Hybride aus Werbung und Surrealismus | |
| 13 Künstler von Will Benedict bis Stewart Uoo präsentieren seltsame Hybride | |
| aus Werbung und Surrealismus: ein Alien, ein brennender Hut. Umringt ist | |
| der furiose Biennale-Auftakt, der das Labyrinth des Akademiegebäudes | |
| kongenial bespielt, von Schaufensterpuppen mit verdrehten Gliedmaßen, die | |
| ebenso gut aus einem Luxus- wie einem Fetischshop stammen könnten. | |
| Zu einer wirklich genuinen Ästhetik haben sich die neuen, populären, | |
| digital erzeugten und die alten, analogen Bildwelten aber noch nicht | |
| fusioniert. Es sei denn, man betrachtet Nicolás Fernández’ Ölbild | |
| „Everything needs it’s own absence“ – das einzige in der ganzen Biennal… | |
| als solche. Das Vorbild für die nackte Frau im Kopfstand, an deren Brust | |
| ein am Boden sitzender Säugling trinkt, stammt von dem viral verbreiteten | |
| Foto einer Yogalehrerin. | |
| „Homeland“, das rasante neue Video des türkischen Politkünstlers Halil | |
| Altındere, bei dem der Berliner Rapper Mohammad Abu Hajar den Fluchtweg von | |
| Syrien bis zum Kreuzberger Oranienplatz rappt, wirkt in dieser Mischkulisse | |
| aus Kommerz und Kunst wie ein Fremdkörper. | |
| Der DIS-Versuch, E und U mittels „horizontal approach“ zu versöhnen, Kunst, | |
| Musik und Mode friedlich „koexistieren“ zu lassen, treibt bisweilen | |
| seltsame Blüten. Etwa in der „Comfort zone“ des amerikanischen Designers | |
| und Architekten Shawn Maximo in einem Zwischengeschoss der Kunstwerke in | |
| der Auguststraße. | |
| ## Unisex-Toilette | |
| Denn die Abhänglounge, die Maximo mit Sitzkissen, Wandbildschirm und | |
| Fototapete von hyperrealer Welten ausgestattet hat, ist eine | |
| Unisex-Toilette. Auf einer schmalen Rinne können Männer wie Frauen ihre | |
| Notdurft verrichten. Und sich dabei wohl fühlen. Womit der globale | |
| Toilettenstreit ein für alle Mal entschärft sein dürfte. Der Name des | |
| Sponsors der Armaturen für diesen „Hybrid zwischen Innen- und Außenraum“ | |
| ist gut zu lesen. | |
| Was hätte Jakob Mierscheid zu dieser Spitzenleistung der Kreativindustrie | |
| gesagt? | |
| 7 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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