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# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Die Puppe aus der Bauchtanzgruppe
> Kulturelle Aneignung? Nein, es ist nicht schlimm, wenn sich
> bewegungseingeschränkte deutsche Frauen orientalischen Tanztechniken
> zuwenden.
Bild: Man muss sich ja nicht alles ansehen
Irgendwann in den achtziger Jahren wurde es in Deutschlands alternativen
und auch frauenbewegten Szenen von Berlin-Kreuzberg bis Bielefeld Mode, dem
orientalischen Bauchtanz zu frönen. Weil die Ausübung dieses recht viele
Muskelgruppen aktivierenden Tanzes – auch solchen, deren Existenz man schon
vergessen hatte – als sinnliche Methode der Geburtsvorbereitung galt.
Dreißig Jahre später gibt es diese Bauchtanzgruppen noch immer, und so
begab es sich, dass ich in eine Aufführung einer solchen geriet, mitten in
Berlin.
Es wäre nun sehr einfach, sich über eine solche Aufführung lustig zu
machen: Zwanzig nunmehr postklimakterische deutsche Frauen – das Personal
der Gruppen ist fast das gleiche wie vor dreißig Jahren – schwingen die
Hüften zu orientalischen Weisen. Überall glitzert und leuchtet, was die
Stoffabteilung von Karstadt hergegeben hat, und die Choreografie ist
mitunter hölzern wie deutsche Eiche.
Selbstverständlich versagte auch die (ja klar, von einem Mann)
verantwortete Technik auf voller Linie. Und immer die Angst, dass der Saal
jede Minute von einer studentischen Kampfgruppe gestürmt werden könnte, die
zur Abwendung von weiteren Exzessen kultureller Aneignung auch vor dem
Einsatz von Buttersäure nicht zurückschrecken würde.
## Der Gloria Gaynor-Moment
So will man ja seinen Sonntagabend auch nicht verbringen. Und so weit kam
es dann nicht, es wurde ganz anders. Es war nämlich nicht möglich, sich dem
Charme dieser Veranstaltung zu entziehen, die – ähnlich einer
Schultheateraufführung – Pflichtprogramm für sämtliche Verwandte, Kollegen
und Freunde zu sein schien; das aber im großen Stil: voller Saal, zwei
Stunden strammes Programm. Keiner darf raus.
Doch je länger man zuschaute, desto mehr Details an den wahrscheinlich
selbst geschneiderten Kostümen konnte man erkennen und wertschätzen. Je
länger man zuschaute, desto mehr Sympathien konnte man für die
Protagonistinnen entwickeln, von denen einige hier gewiss ihren
persönlichen Gloria-Gaynor-Moment hatten: „I am what I am / And what I am
needs no excuses.“ Hier tanzten Damen mit Grandezza, die auf die siebzig
zugehen, und auch solche, die deutlich mehr wiegen als Heidi Klum. Nein, es
kann eigentlich nichts Verwerfliches daran sein, wenn sich
bewegungseingeschränkte deutsche Frauen außereuropäischen Tanztechniken
zuwenden.
War es die Apfelschorle oder die Musikauswahl – wussten Sie, dass es eine
Kirmestechno-Version von „Spiel mir das Lied vom Tod“ gibt? – oder doch
eher die Großzügigkeit im Saal, die Bereitschaft über Mängel hinwegzusehen
und vordergründig Lachhaftes zu beklatschen, die mir am Ende des Abends ein
Lächeln ins Gesicht gezaubert hatte, das ich mit nach Hause nehmen konnte.
Den besten Bauchtanz ever habe ich übrigens mal in Istanbul gesehen, in
einer Schwulenbar (ja klar, von einem Mann verantwortet). Aber bei der
nächsten Aufführung der Bauchtanzgruppe soll auch Mustafa wieder dabei
sein, so hieß es gerüchteweise in der Pause. Auch das werde ich mir nicht
entgehen lassen.
3 Nov 2016
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Critical Whiteness
Frauen
Queer
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Aleppo
Herbstzeitlos
Kartoffeln
Trier
Lesestück Recherche und Reportage
Europa
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