# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Ein Eis in Eisenhüttenstadt | |
> Nicht wenige zweifeln daran, dass Europa eine Zukunft hat. Doch die | |
> Gegenwart spricht dafür. Ein kulinarischer Eurovision-Contest. | |
Bild: Eis, Eis, Baby – hier in Schleswig-Holstein serviert | |
Freunde hatten neulich einen kurzen Aufenthalt in der Schweiz. Warum auch | |
immer, auf jeden Fall bekamen sie Hunger und Durst und wollten deshalb | |
nicht gleich ein Sterne-Lokal aufsuchen. Sie entschieden sich also für | |
Bratwurst und Bier an einer Bude für schlappe 42 Euro. Übertrieben? 42 Euro | |
für beide zusammen. Beruhigt? | |
Nun wurden ja auch genau genommen Franken kassiert für die kleine | |
Erfrischung am Zürichsee und die Schweiz ist nicht Mitglied der EU und die | |
beiden Währungen sind entkoppelt. Und doch kann man auch innerhalb der EU | |
ziemliche Überraschungen erleben, was das Gefälle der Lebensarten angeht. | |
So hatten mein Lebensgefährte und ich innerhalb von sieben Tagen drei | |
exotischst divergierende Mahlzeiten im Schengen-Raum, als da waren ein | |
Schinken-Baguette in Luxemburg, ein Schaschlik mit Pommes in Polen und ein | |
Eis in Eisenhüttenstadt, Deutschland. | |
In Luxemburg-Stadt kostet schon eine Pizza Margarita schlappe 12 Euro, | |
weshalb wir uns bei leichtem Nieselregen für eine Einkehr in die Filiale | |
der eher trashigen französischen Bäckereikette „Brioche Dorée“ entschied… | |
und uns fragten, wie es denn möglich ist, dass es für internationale | |
Konzerne so preiswert ist, sich im auf Hochglanz geputzten Luxemburg | |
anzusiedeln, während wir uns nicht mal eine warme Mahlzeit leisten können. | |
Gut, dafür war der Eintritt ins Nationalmuseum frei. | |
## Hunger an der Oder | |
Ein Wochenende später hatten wir nun Hunger in Frankfurt an der Oder und | |
fuhren zum Mittagessen nach Polen. Man muss nur die Stadtbrücke überqueren | |
und schon ist man in Słubice. Gleich rechts das Restaurant „Douane“, in dem | |
man so preiswert essen kann, dass sich weite Teile der übergewichtigen | |
Bevölkerung Brandenburgs eingefunden hatte. Schnitzel-Pommes für sechs | |
Euro! Und das Schaschlik schmeckte ausgezeichnet – auch den Polen, für die | |
eine solche Mahlzeit vergleichsweise teuer ist, auf jeden Fall ein | |
Sonntagsessen. | |
Beim anschließenden Eis in Eisenhüttenstadt roch es tatsächlich nach Eisen | |
und Kohle, im Stahlwerk (mit Erlaubnis der EU-Kommission seinerzeit auch | |
mit öffentlichen Geldern saniert) war wohl gerade Abstich oder dergleichen, | |
dass es so etwas überhaupt noch gibt. Vor den sanierten Kulissen der | |
ehemaligen DDR-Vorzeigestadt flanierten Rentner beiderlei Geschlechts, und | |
das köstliche Schokoladeneis in der „Mokka-Milcheisbar“ kostete einen Euro | |
pro Kugel, für Luxemburger ein Schnäppchen – und sogar für Berliner schon | |
fast preiswert. | |
Beim kulinarischen Eurovision-Contest hatte wohl Polen die Nase vorn, | |
zumindest was das Preis-Leistungs-Verhältnis angeht. | |
Aber ist es nicht ein Wunder, dass es ein so komplexes Gefüge wie die | |
erweiterte Europäische Union noch immer gibt? Allein das Wohlstandsgefälle | |
müsste ein Zusammenleben eigentlich unmöglich machen. Es ist aber nicht so | |
– irgendwie hat man es längst geschafft, sich einzurichten in dieser | |
manchmal verrückten Europäischen Union mit ihren Gurkennormen. Und ohne | |
ihre Schlagbäume und Passkontrollen. | |
L’Europe, douze points. | |
19 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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