# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: An einem Vormittag in Tanger | |
> Die Regierungstruppen haben Aleppo eingenommen. In Marokko geht alles | |
> seinen gewohnten Gang. Ungerechtigkeit inklusive. | |
Bild: Vor fünf Jahren war ich zuletzt in Tanger, die „Arabellion“ nahm ihr… | |
Ein deutscher Schäferhund starrt vom Dach nebenan herüber, ausgerechnet | |
hier, über den Dächern der Medina von Tanger, Marokko. Die Sonne scheint | |
warm unter Wolken hervor, die von Europa hergezogen sind. Die Fähre aus | |
Spanien legt an, sie hat nur dreißig Minuten gebraucht. Umgekehrt kann die | |
Reise das Leben kosten. | |
Vor fünf Jahren war ich zuletzt in Tanger, die „Arabellion“ nahm ihren | |
Lauf. Gestern kam die Nachricht, dass die Regierungstruppen Aleppo | |
eingenommen haben. Nur in Marokko geht alles seinen gewohnten Gang, der | |
König ist in seinem Palast. In seinem Land drehen sich die neuen Windräder, | |
die Solarkollektorenfelder werden größer. Im Supermarkt gibt es keine | |
Plastiktüten mehr, der Umwelt zuliebe – und das Flughafengebäude darf man | |
nicht mehr ohne Sicherheitskontrolle betreten. | |
Am Stadtstrand wurde „aufgeräumt“, dort, wo sich einst Club an Bar reihte, | |
auch solche Bars, die der Animation dienten, ist nun alles planiert. Die | |
Corniche von Tanger wird aufgemöbelt, eine große neue Marina wurde | |
angelegt. Und wem gehört nun wohl das große Hotel, das sich einst im Besitz | |
von einem der Söhne Gadaffis befand? | |
Das Haus, das wir mit Freunden gemietet haben, sieht so aus, wie sich ein | |
reicher Europäer ein Haus in der Altstadt von Tanger vorstellt; es gehört | |
einem Franzosen aus Paris. | |
## Parallelwelt | |
Es ist so ungeheuer geschmackvoll-minimalistisch ausstaffiert, inklusive | |
gewisser Metalldetails, die sich leitmotivisch durch das Anwesen ziehen und | |
selbstverständlich aus regionaler Produktion stammen, dass sich Younis nur | |
die Augen reiben konnte, als er es gestern zum ersten Mal sah. Er stammt | |
aus Tanger, kennt hier jeden Winkel und jede Villa, die es zu vermieten | |
gibt. Aber das hier ist reinste Parallelwelt. | |
Gestern sind wir mit Younis an den Atlantik gefahren – und er hat uns | |
gefragt, ob wir einen touristischen oder einen einheimischen Strand | |
besuchen wollen. Selbstverständlich wollten wir den „echten“ Strand, also | |
den, zu dem die Marokkaner gehen. Sie gehen allerdings nicht dorthin, sie | |
fahren. | |
Auf dem weiten Sandstrand überall Reifenspuren, junge Männer zirkeln dort | |
mit Quads und anderem lärmenden Gerät. Im Strandcafé hat man zuvorderst | |
einen guten Blick auf die geparkten Autos und dann erst auf den wild | |
schäumenden Atlantik, doch immerhin verdecken sie den Müll und die | |
weggeworfenen Kühlschränke, die die Felsen zieren. | |
## Billige Isolierung | |
Im Restaurant in der Medina sitzen wir und essen Tahine, der Wirt des Cafés | |
von nebenan rennt los, um bettelnde Straßenjungs mit dem Stock zu | |
verprügeln. Einer von ihnen humpelt, er trägt einen alten Norwegerpullover | |
mit Hirschmotiven, schreit laut auf, und keiner schaut hin. | |
Das Dach vorne links ist mit einer großen, stabilen Werbeplane abgedeckt. | |
Sie zeigt eine H&M-Werbung, die eine Jacke für 69,99 Euro anpreist und nun | |
als billige Isolierung dient. | |
Eine Fähre legt ab, in Richtung Europa. Sie wird nur dreißig Minuten | |
brauchen, dann sind die Fahrgäste mit den richtigen Pässen sicher zurück. | |
So wie wir in zwei Tagen, wenn wir in unser Flugzeug steigen. | |
15 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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