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# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Brunftbaden ist allezeit
> Immer mittwochs ist in meinem Stadtbad in Berlin-Neukölln Nacktbaden. An
> diesen Tagen geht es gesitteter zu als sonst.
Bild: Das Stadtbad Neukölln wurde zwischen 1912 und 1914 gebaut
In meinem Berliner Lieblingsstadtbad ist immer was anderes los. Mal
schwimmen nur Meerjungfrauen, mal nur Frauen an sich und unter sich. An
Sonntagabenden ist Romantikschwimmen mit Kerzenlicht, dann gibt es noch
„Spaß- und Familenbaden“, Schulbetrieb, Vereinsschwimmen, Behinderten- und
Seniorenschwimmen.
Und mittwochs ist immer Nacktbadetag. Abends um acht, wenn die anderen
Bürger die Tagesschau gucken, fallen im Stadtbad Neukölln die letzten
Hüllen. Schon ungefähr eine halbe Stunde vorher kündigt er sich an, der
Bewusstseins- und Bekleidungswandel.
Um 19.30 Uhr mag es noch leer sein im Becken, aber doch ziehen schon
einzelne Herren ihre Bahnen, die Uhr an der Hallenwand stets im Auge
behaltend. Ein Pärchen lagert in züchtigen Frotteebademänteln auf den
Liegen am Beckenrande.
Aber dann, Punkt 20 Uhr, werden die ersten Badehosen aus dem Wasser
geschleudert und die Frotteebademäntel fallen hinab. Hinein ins Nass! Zwei
Amerikaner, die nicht mitbekommen haben, das hier heute Abend the german
Freikörperkultur auf dem Programm steht, fliehen entsetzt. „Embarassing“
und gar nicht „awesome“.
## Belle Époque
Stattdessen klappt nun ein ums andere mal die Flügeltür. Herren in allen
Breiten betreten die Halle, das Handtuch noch um die Hüfte geschwungen. Die
Handtücher werden abgelegt, dann steigen sie über die breite Treppe hinab
ins Bad.
Es hat durchaus eine Anmut, wie die Menschen hier ungeniert ihrer
Körperlichkeit frönen – auch wenn sich für den ein oder anderen ungewohnte
anatomische Einblicke bieten, folgt man einem anderen Herrn hintendrein
beim Brustschwimmen.
Das Stadtbad Neukölln wurde zwischen 1912 und 1914 gebaut, allerfeinste
Belle Époque, und es fällt gar nicht schwer, hier die Zeit zu vergessen.
Man kann sich zum Beispiel in einer Szene von Hans Falladas Roman „Kleiner
Mann – was nun?“ wähnen, in der der Buchhalter Johannes Pinneberg,
Verkäufer in einem Kaufhaus, von seinem eleganten Kollegen Joachim Heilbutt
mit zu einem Treffen seines Freikörperkulturvereins genommen wird – in ein
Berliner Schwimmbad.
Der Roman spielt Anfang der dreißiger Jahre. Pinneberg traut sich nicht,
sich auszuziehen – ausgerechnet an dem Abend, an dem seine Frau entbindet.
Und wenig später schon wird Heilbutt ob seiner Mitgliedschaft in dem
problematischen Vereine entlassen.
## Romantikschwimmen
Dabei ist nun wirklich so gar nichts Frivoles an dieser nudistischen
Schwimmerei, im Gegenteil geht es betont züchtig und asexuell zu,
vergleichbar der Atmosphäre in einer gemischten Sauna, in der schon die
Andeutung eines Halbständers als undenkbar gilt.
Wesentlich lustbetonter geht es da zu, wenn konventionell gebadet wird –
und ich spreche hier nicht vom Romantikschwimmen. Auch ohne Kerzen fühlen
sich junge heterosexuelle Paare ermutigt, im Nichtschwimmerbereich
aneinander herumzuknabbern.
Es wird geschubbert und geschmiegt, dass einen das Tragen einer Chlorbrille
zum Voyeur macht. Aber was soll’s: Wenn nun auch noch Brunftbaden
eingeführt würde, hätte man bald gar keinen Platz zum Bahnenziehen.
9 Mar 2017
## AUTOREN
Martin Reichert
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