# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Wir kennen uns seit dem Kindergarten | |
> Die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Deutschtürken geht trotz | |
> einer Abstimmung weiter. Gerne auch im Streit. | |
Bild: Nichts ist hier selbstverständlicher als kleine Kinder, die „Anne“ s… | |
Tarkan war der Türke meiner Kindheit. Er war der einzige, und genau das war | |
das Problem: Weil er im Kindergarten ganz allein war mit seinem „anders“ | |
sein, hatte er sich instinktiv entschlossen, lieber der Unterdrücker als | |
der Unterdrückte zu sein, weshalb er ein Gewaltregime in Gruppe 4a | |
errichtete. | |
Eines Tages kam seine Mutter zu Besuch, um für alle eine türkische Suppe zu | |
kochen, mit Hülsenfrüchten. Sie schmeckte gut, und es war eine gute Idee | |
des Kindergartens, Berührungsängste abzubauen durch kulturellen Austausch. | |
Trotzdem hatten alle weiterhin Angst vor Tarkan dem Türken und seinen | |
kleinen Fäusten. Ich auch. | |
In den Siebziger Jahren waren Türken in der rheinland-pfälzischen Provinz | |
„Ausländer“, auf jeden Fall „Gastarbeiter“. Obwohl Tarkan genau wie ic… | |
dem kleinen Krankenhaus der Kreisstadt geboren worden war. Später, in der | |
Grundschule, gab es dann einen Jungen namens Mustafa, der mit Gewalt nur | |
insofern zu tun hatte, als er von dem alkoholkranken Nachkriegslehrer | |
geschlagen und an den Haaren gezogen wurde – als einziges Kind der Schule; | |
mit dem Türken konnte man das anscheinend machen. | |
Die Muslime und die „Evangelen“ in der mehrheitlich katholischen Gegend | |
wurden in einem gesonderten Raum in Glaubensdingen unterrichtet, in einer | |
größeren Abstellkammer, immerhin mit Fenstern. Auf der rechten Seite des | |
Raums hing ein Poster mit dem Abbild von Martin Luther, auf der linken | |
Seite ein riesiges Plakat, das einen Mann mit Schnurrbart und extrem blauen | |
Augen zeigte, den ich zunächst für einen Religionsführer hielt. Erst später | |
wurde mir klar, dass es sich dabei um Atatürk handelte – und dass | |
Minderheiten es in der Regel schwerer haben. | |
## Als wäre ich in Sachsen aufgewachsen | |
Selbstverständlich hatte es nicht ein Einziger der türkischstämmigen | |
MitschülerInnen auf das Gymnasium geschafft, trotz Bildungsreform hatten | |
sich die zum Teil unsichtbaren Barrieren, mit denen sich das Bürgertum | |
abschottet, als stabil erwiesen. Über Jahre beschränkte sich nun mein | |
Kontakt mit „Türken“ auf den „Dönermann“ am Marktplatz der Kleinstadt; | |
ganz so, als wäre ich in Sachsen aufgewachsen. | |
Erst sehr viel später – keineswegs an der Universität in der Provinz, | |
sondern in Berlin, begegneten mir wahrhaftige „Abiturtürken“, die mir | |
zunächst so exotisch erschienen wie die Männer in Kutten und Jeanskluft, | |
die ich bei meinem ersten Istanbul-Besuch in einer Rockerkneipe sah: Trafen | |
sich Türken etwa doch nicht ausschließlich in Kulturcafés mit Neonlicht? | |
Lange schon lebe ich nun in Kreuzberg-Neukölln, und nichts ist | |
selbstverständlicher als kleine Kinder, die „Anne“ schreien, oder Männer, | |
die sich mit „Efendim“ am Telefon melden. Umso verwirrender finde ich nun, | |
nach dem in der Tat unerfreulichen Ausgang des Referendums in der Türkei, | |
die Forderung nach Abschiebung meiner deutschtürkischen MitbürgerInnen, | |
auch aus liberalem Munde. Auch diejenigen meiner Nachbarn, die leider für | |
Erdoğan gestimmt haben, bleiben meine Nachbarn. Wir haben eine gemeinsame | |
Geschichte, und sie geht weiter. Gerne auch im Streit. | |
20 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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