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# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Die Discokugel steht still
> Wenn Feiern nicht mehr hilft. Ein Jetzt-erst-recht-Besuch auf dem
> Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz.
Bild: Menschen, die erst recht gekommen sind und Kunstpelz an der Anorakkapuze …
Feiern war immer irgendwie die Antwort gewesen. Und heute wirkt das
manchmal wie ein Nachhall aus den Neunzigern; an das, was in den nuller
Jahren war, kann ich mich auch schlechter erinnern.
Feiern als Antwort, das hatte also bedeutet, auf den Weihnachtsmarkt am
Berliner Breitscheidplatz zu gehen, nach der Wiedereröffnung. Einen ganzen
Tag lang war er geschlossen gewesen nach dem Attentat, für Berliner
Verhältnisse war das ja schon ein Ausbund an Bedachtsamkeit.
Die Idee war also: jetzt erst recht, da gehn wa hin, da trinken wir fiesen
Glühwein und essen eine minderwertige Bratwurst; wenn wir an den
Alexanderplatz gegangen wären, Deutschlands brutalsten Weihnachtsmarkt,
räudig und rau, wären wir auch noch Karussell gefahren, damit uns schön
schlecht geworden wäre. Am verabredeten Treffpunkt, vor dem Kino
Zoo-Palast, stand ich wartend zunächst.
Im Zoo-Palast gab es noch in den Neunzigern eine Laser-Show, über die man
lachte, weil sie aus den Achtzigern war. Nun standen dort unzählige Kerzen,
solche, die man auf Gräber stellt. Dazwischen Blumen gelegt. Ein paar Meter
weiter, auf der anderen Straßenseite, war es passiert.
## Singen für den Frieden
Die Ü-Wagen der Weltpresse stehen noch überall herum, Reporter befragen
Passanten, holen O-Töne ein. Muslime singen für den Frieden, eine Kamera
fängt das ein. Vor dem Zoo-Palast küsst sich ein Paar, ein Mann und eine
Frau.
Es könnte eine symbolische Liebeshandlung sein, es wird ihr auch Beachtung
geschenkt von den Passanten; aber es ist ganz alltäglich, er hat sie zur
Arbeit gebracht, sie muss ins Kino, die Abendschicht. Er winkt hinterher.
Ein Kloß sitzt im Hals. Der Kuss, die Blumen, die Kerzen.
Da kommen die anderen, die schwule Gang. Der harte Kern. Was auch passiert.
Nicht totzukriegen. Ü40, Hyaluron, Hendrick’s Gin. „Yalla?“
Auf der anderen Seite der Straße noch mehr Kerzen. Vor den Ständen in der
Gasse, in der es passiert ist, wartet niemand. Die Würste warten, sie sind
halb verkohlt, eingeschrumpelt, „2 Euro und 50 Cent“, sagt die Verkäuferin.
„Senf dazu?“ Vorgestern sind fünf ihrer Kollegen hier ums Leben gekommen.
## Fettige Reibekuchen
Der Glühwein wird in dickwandigen Gläsern serviert, es riecht nach heißem
Fett und nach Zucker. Noch mehr Menschen hier, die erst recht gekommen sind
und Kunstpelz an der Anorakkapuze tragen. Sie essen die fettigen
Reibekuchen und trinken das zuckrige Zeug, das Trost spenden könnte, wenn
man wirklich trauern würde.
„Von hier aus hätte man einen Logenplatz gehabt“, sagt einer, „so richtig
viel Platz zum Ausweichen hätte man hier aber nicht gehabt,“ sagt ein
anderer. Es wird noch ein Glühwein bestellt, erst recht.
Der Weihnachtsmarkt füllt sich allmählich, doch die Gasse, in der es
passiert ist, bleibt leer. Der Glühwein, er schmeckt heute nicht, als
tränke man erhitzten Multivitaminsaft. Es will nicht leuchten hier heute
Abend, die unermüdlich sich drehende Discokugel des Lebens steht für einen
Moment still.
Alle in der Runde wissen: Das ist keine gute Zeit. Für uns schon gar nicht.
4 Jan 2017
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Anschlag
Weihnachtsmärkte
Slowenien
Herbstzeitlos
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Aleppo
Herbstzeitlos
Critical Whiteness
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