| # taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Applaus auch für den Dildo | |
| > Deutsche Dramen, Nackte auf der Bühne und Pausensekt: Angeblich rennen | |
| > dem Stadttheater die Abonnenten weg. Aber meine Mutter bleibt! | |
| Bild: Eigentlich ist die Welt in Trier in Ordnung (hier vor der Porta Nigra) | |
| „Walküre in Detmold“ heißt ein schönes Buch des Kollegen Ralph Bollmann, | |
| das sich mit den rund achtzig festen Opernensembles in Deutschland | |
| befasst – das sind fast so viele wie in der ganzen übrigen Welt. | |
| Die deutsche Kulturlandschaft, sie blüht recht rege in der Provinz. Und so | |
| kommt auch meine Mutter, Jahrgang 1940, regelmäßig in den Genuss von | |
| Dramen, Komödien und Operetten. Seit Jahren ist sie im Besitz eines | |
| Abonnements des Stadttheaters, das sich in der nächsten „Großstadt“ | |
| befindet, nämlich in Trier. | |
| Das Ritual ist immer gleich. Mein Vater fährt sie zum Zentralen | |
| Omnibusbahnhof der kleinen Kreisstadt, dort steigt sie zusammen mit einer | |
| Freundin und einigen anderen RentnerInnen in den Theaterbus, der sie direkt | |
| zum Stadttheater Trier bringt. So muss man keinen Parkplatz suchen. In der | |
| Pause trinken die beiden einen Sekt – gegessen haben sie ja schon zu Hause | |
| etwas. Man muss nicht unnötig Geld ausgeben. | |
| ## König Lear friert | |
| Seit Jahren – oder Jahrzehnten – geht das nun schon so. Ohne große Dramen, | |
| ausgenommen jene auf der Bühne. Fast schon stoisch ertrug meine Mutter zum | |
| Beispiel die zahlreichen Nackten, die aufgefahren wurden, um das | |
| Pensionärspublikum aus der Eifel zu erschrecken. Nur einmal war sie | |
| wirklich sauer, aber nur deshalb, weil ausgerechnet König Lear nackt auf | |
| die Bühne musste – „der Schauspieler war doch nun wirklich schon ein alter | |
| Mann, er hat mir leid getan. Außerdem konnte man förmlich sehen, dass ihm | |
| sehr kalt war.“ | |
| Seit einiger Zeit nun aber kracht und wummt es derart im Stadttheater | |
| Trier, dass man es sogar in Berlin und anderswo mitbekommt – was eigentlich | |
| nur ein gutes Zeichen sein kann. Die Quelle des Lärms ist unter anderem der | |
| Intendant Karl M. Sibelius: Österreicher, homosexuell und gelegentlich als | |
| transsexuelle Kunstfigur „Rose Divine“ auftretend. Immer gibt es Ärger mit | |
| irgendwas – und nun hat er auch noch das Budget überzogen. Zum Vorwurf | |
| gemacht wird ihm zudem von den Stadtoberen, dass sich „alteingesessene | |
| Abonnenten“ zurückgezogen hätten. | |
| Zugegeben, meine Mutter war nun auch nicht zutiefst amused darüber, eine | |
| Aufführung des Musicals „Rent“ in der Kulisse einer öffentlichen Toilette | |
| anschauen zu müssen. Auch Dildos sollen auf der Bühne zum Einsatz gekommen | |
| sein. „Da waren schon einige, die den Saal unter Protest verlassen haben“, | |
| berichtete sie. Andererseits hat sie den Zweiten Weltkrieg, einen schwulen | |
| Sohn, der ihr jahrelang militant mit der Regenbogenflagge unter der Nase | |
| herumgewedelt hat, und, gerade erst letzten Sonntag, mannmännlichen | |
| Analverkehr im „Tatort“ überlebt. Und das alles, ohne AfD-Wählerin zu | |
| werden. | |
| Das Problem ihrerseits besteht auch eher darin, dass sich Mitabonnenten aus | |
| ganz anderen Gründen zurückziehen. Ihre Freundin kann schon lange nicht | |
| mehr nach Trier mitfahren, der Gesundheit wegen. Und auch sonst treibt sie | |
| sich viel auf Beerdigungen rum. | |
| Ins Stadttheater Trier aber fährt sie auf jeden Fall auch in Zukunft. Meine | |
| Mutter bleibt. Darum, Herr Sibelius: Show must go on. | |
| 10 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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