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# taz.de -- Kolumne Apocalypse Now: Wo sind die Gifte von gestern?
> Der Regen: radioaktiv. Der Wein: frostschutzmittelgetränkt. Das
> Spielzeug: weichmacherverseucht. Ein Blick zurück in die Achtziger.
Bild: Spezialeinheiten messen auf einem Feld in der Nähe von Tschernobyl im Ma…
Früher war alles noch schlimmer. Kaum hatte der Club of Rome seinen Bericht
„Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht, wurde ich geboren, also im Jahr
1973. Prompt gab es den ersten autofreien Sonntag, was aber eher der
Ölkrise als einem gestiegenen Umweltbewusstsein geschuldet war. Schon als
Krabbelkind kaute ich auf Weichmachern herum, und als ich gerade laufen
konnte, war mein erster Spielplatz eine zugeschüttete Müllkippe, auf der
sich ein paar Hecken und Sträucher mühten, ursprüngliche Natur zu
simulieren.
Club of Rome hin oder her, ich wuchs weiter. Und je größer mein
persönliches Wachstum, desto intensiver schwanden die begrünten Flächen in
meiner Umgebung zugunsten allgemeiner Bebauung und Oberflächenversiegelung.
Bereits als Neunjähriger beteiligte ich mich an diesen Eingriffen in die
Schöpfung, indem ich mit Hilfe eines Klappspatens einen Bach umleitete, der
in Wahrheit ein Abwasserrinnsaal mit schaumig-gelber Krone war.
Ich erinnere mich an Autofahrten mit geschlossenen Fenstern, bei denen
Kette geraucht wurde. An extreme Sonnenbrände, weil man immer „an die
frische Luft“ sollte, obwohl dort das Ozonloch lauerte. Schutz boten
höchstens die Kondensstreifen der zahlreichen Militärjets, die im Tieflug
vorbeidonnerten.
Im Wein war seinerzeit Frostschutzmittel, aber für uns Kinder hatte man
ganz andere Toxine: Man trank nach Chemie schmeckende „Limonaden“ aus
Metalltüten und als Nachtisch wurden schaumig-schrille Cremes gereicht. Ich
schwamm im Rhein und bekam rötlich-juckenden Ausschlag. Ich schwamm in
Schwimmbädern, die überchlort waren, und in Seen, die aufgrund von
Überdüngung längst umgekippt waren. Mit meinen Cousinen spielte ich im
Schatten eines AKWs, das in einem Erdbebengebiet errichtet worden war.
In den Achtzigern dann wurde der Regen zuerst sauer und später radioaktiv.
Und ich immer mittendrin mit meinem Fahrrad, während die Erwachsenen sicher
waren in ihren Autos, die noch mit verbleitem Benzin fuhren. Eine eventuell
in diesem Alter aufkeimende Sexualität wurde unter massiver Todesangst
erstickt. Aids.
Als Abiturient wollte ich schließlich meinen Vater überreden, einen
Katalysator für das Familienauto nachzurüsten, was dieser mit dem Argument
ablehnte, dass der Motor dann an Leistung verlöre. Aus lauter Verzweiflung
fing ich dann selbst das Rauchen an. Was für eine Ausrede. Schade
eigentlich, dass irgendwann der Punkt kommt, an man selbst die
Verantwortung übernehmen muss. Im gleichen Jahr, in dem ich mit dem Rauchen
anfing, buchte ich meine erste Flugreise.
Die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ wurde unter anderem von der
Volkswagenstiftung finanziert. Haha. Aufgabe der Studie war es zu zeigen,
dass das individuelle lokale Handeln aller globale Auswirkungen hat, die
jedoch nicht dem Zeithorizont und Handlungsraum der Einzelnen entsprechen.
Und ich weiß gerade nicht, ob es ein Trost ist, dass die Missstände aus dem
Kindheitszeithorizont weitgehend behoben wurden, weil ich im Handlungsraum
meines Erwachsenseins so viel Mist verbockt habe.
9 Dec 2015
## AUTOREN
Martin Reichert
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