# taz.de -- Kolumne Apocalypse Now: Mein Leben als Tamagotchi | |
> Wir werden verarscht: Der Klimawandel verlangt Verzicht, das System | |
> verlangt Genuss. Individuen sollen die Zwickmühle lösen – unmöglich. | |
Bild: Ein Tamagotchi, 1997 frisch auf dem Markt. | |
Die Selbstoptimierung im Zeitalter des Neoliberalismus geht ungehindert | |
weiter. Glaubt man der Werbung, die zwischen den angesagten TV-Formaten | |
läuft, ist man schon bald als sein eigenes Tamagotchi unterwegs. Denn da | |
gibt es jetzt diese App. Die nicht nur eine Fitness-App ist, sondern dir | |
auch sagt, dass jetzt noch ein Glas Wasser angezeigt wäre, dass noch eine | |
Runde um den Block nicht schaden kann und du noch zwei Apfelsinen und einen | |
Apfel essen musst, um auf deine Vitaminwerte zu kommen. | |
Klingt positiv, kommt bestimmt aber auch mit Dröhntönen, die anzeigen, dass | |
du von der E-Zigarette gefälligst die Finger lassen sollst, dass die zwei | |
großen Bier in der Lieblingsbar Lebenspunkte kosten und das Auto auch aus | |
Umweltgründen besser stehen gelassen werden sollte. Ein digitales Über-Ich, | |
das du in deinem Telefon permanent dabeihast! Das dir auch anzeigt, dass du | |
mal wieder Sex haben solltest, denn Sex gilt ja inzwischen als gesund (bis | |
zur nächsten viralen Verbreitung von Geschlechtskrankheiten), und die | |
folgenden fünf Kandidat*innen stünden dir im Umkreis von 5 km heute zur | |
Verfügung. Beginne den Chat! | |
Mein Leben als Tamagotchi. Der Klimawandel passt da eigentlich ganz gut ins | |
Schema. Denn auch der Klimawandel, so der allgemeine Tenor, der von den | |
Altvorderen auch dieser Zeitung gern in die Welt geblasen wird, wird einen | |
Tribut fordern, einen sehr breiten Verzicht. Weniger Fleisch, weniger | |
Flugmeilen, weniger Energieverbrauch, überhaupt viel weniger Konsum. | |
Ein schönes Doublebind ist das, denn das System wird auch weiterhin den | |
Genuss verlangen, es muss nur eben der gute Genuss sein. Oder wie Slavoj | |
Žižek schreibt: „Öffentliche Figuren vom Papst abwärts bombardieren uns m… | |
Vorschriften, der Kultur der exzessiven Gier und des Konsums zu | |
wiederstehen, doch ist dieses Schauspiel billiger Moralisierung ein | |
ideologisches Unternehmen, wie es im Buche steht. Der Zwang, sich | |
auszudehnen, der in das System selbst eingeschrieben ist, wird hier in eine | |
Angelegenheit von persönlicher Sünde übertragen, von privater | |
psychologischer Neigung.“ Wir werden also verarscht. Und die Welt geht so | |
oder so unter, es sei denn, man ist Republikaner. | |
Denn: Warum eigentlich ich? Habe ich die Ticketpreise für Bus und Bahn | |
wieder einmal erhöht? Nein, ich war das nicht. Nur so als Beispiel: Ich | |
habe sehr lange in einem grün-links regierten Bezirk der Hauptstadt | |
gewohnt. Parkgebühren wurden da aber keine eingeführt. Es gab auch nicht | |
mehr Zebrastreifen und Grünflächen als vorher, und das mit der Förderung | |
des Radfahrens war nicht mehr als ein schlechter Witz, man versuche nur | |
mal, mit dem Rad durch die Wiener Straße zu kommen! | |
Ich lese gerade einen Roman, der davon handelt, wie Informatiker | |
versuchten, im freien Chile, also dem vor dem von der CIA unterstützten | |
Putsch, die Wirtschaft so zu optimieren, dass aus Mangel eine | |
Grundversorgung für alle werden konnte. Eine Art Regierungstamagotchi! Das | |
sollte man erfinden – und aufhören, die Probleme der Welt zu sozialisieren, | |
also aufs Individuum zu drücken. | |
Das Buch heißt übrigens „Gegen die Zeit“. | |
9 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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