# taz.de -- Ein Tag & eine Nacht im Berliner Späti: Feierabend für das Wegbier | |
> Der Späti hat, was man zum Leben braucht. Am Sonntag soll er geschlossen | |
> sein, kontrolliert wird das nur in Neukölln. Ein Besuch an der | |
> Sonnenallee. | |
Bild: Hier wird spät gekauft – und früh | |
„Stopp!“ Fast wäre die junge Frau gegen Ersins ausgetreckten Arm gelaufen. | |
Verdutzt schaut sie zu ihm hoch. In Türsteherpose hat er sich auf der | |
Treppe vor ihr aufgebaut, in der linken Hand eine Zigarette, aus der Nase | |
bläst er den Rauch. „Hausverbot“, sagt er, „wie oft soll ich dir das noch | |
sagen?“ Einen kurzen Moment ist es still, dann prusten die beiden los. | |
„Los, lass mich durch, du Vogel.“ | |
Die Frau überspringt die zwei Treppenstufen, quetscht sich an Ersin vorbei | |
und fischt blitzschnell vier Helle aus dem Kühlschrank. „Sonst alles wie | |
immer“, sagt sie zu Ersin, der seine Zigarette auf der Fensterbank | |
deponiert und sich hinter den Tresen geschwungen hat. Er reicht ihr Tabak, | |
Blättchen und Filter. „Viel Spaß heute Abend. Macht nicht so lang.“ Sie | |
stopft das Bier in ihren Jutebeutel und den Tabak in die Jackentasche. | |
„Schaun wir mal“, sagt sie und grinst ihm zu. | |
Ein Samstagnachmittag Ende Oktober. Das Kopfsteinpflaster ist noch feucht, | |
es riecht nach Regen. Alle 10 Minuten, wenn die S-Bahn nebenan hält, | |
schwappt ein Schwall Menschen zu Ersin in den Laden. Der steht hinter dem | |
Tresen und stößt sich mit den Armen ab, vor und zurück. Zwischendurch | |
trinkt er einen Schluck Redbull. „Heute Abend wird noch stressig“, sagt er. | |
Ersin arbeitet im AK 44 an der Sonnenallee – einem von rund 1.000 Spätis in | |
Berlin. In der DDR wurden die Buden einst als Spätverkaufsstellen | |
eingerichtet, um die Werktätigen auch nach Feierabend noch mit dem | |
Nötigsten zu versorgen. Heute sind die Spätis in der ganzen Stadt ein | |
kioskgewordener Sehnsuchtsort: Eckkneipe und Kieztreffpunkt, | |
Ersatzsupermarkt und Rumpelkammer – mehr Berlin-Emblem als Fernsehturm und | |
Siegessäule. Immer da, immer offen. | |
Der Späti lebt vom Charme des Unperfekten. Von den wild aufgetürmten | |
Bierbergen, dem liebevoll zusammengeschusterten Angebot, von Tiefkühlpizza | |
über Dosenobst bis zum Heimwerkerbedarf – und natürlich von den langen | |
Öffnungszeiten. Ihr Geschäft machen sie dann, wenn die anderen zu haben. | |
Nur am Sonntag müssen sie eigentlich schließen. So will es das Berliner | |
Ladenschlussgesetz. In den meisten Bezirken interessiert es jedoch | |
niemanden, dass die Spätis auch am Sonntag ihre Ware verkaufen. Die | |
Überwachung der Spätis habe keine Priorität, heißt es aus den | |
Ordnungsämtern. | |
## Stress in Neukölln | |
Doch ausgerechnet in Neukölln, Herzkammer der Späti-Szene, sieht man das | |
anders: Seit rund zwei Jahren kontrollieren Polizei und Ordnungsamt die | |
Spätis intensiv. Erwischen sie jemanden, der nach Samstagnacht 24 Uhr | |
geöffnet hat, gibt es Bußgeldbescheide. Die fangen bei 35 Euro an, steigern | |
sich aber rasch auf bis zu 2.500 Euro. Für die Spätis ist das ein echtes | |
Problem – denn Sonntag ist ihr umsatzstärkster Tag. | |
Darum haben sich die Betreiber in einem Verein zusammengeschlossen. Seit | |
Frühjahr gibt es den „Späti e. V.“ Mehr als 90 Läden sind bereits Mitgli… | |
die meisten aus Neukölln. Vor wenigen Tagen haben sie in der Rixdorfer | |
Silbersteinstraße ihren Vereinsraum eröffnet. Dort wollen sie | |
Rechtsberatung anbieten, Sitzungen abhalten, ihr Vorgehen planen. Auch in | |
den rot-rot-grünen Koalitionsgesprächen soll ihr Anliegen verhandelt | |
werden. „Wenn wir Sonntag nicht verkaufen können, sind wir tot“, sagt Ahmet | |
Razi. | |
Der 31-Jährige ist zweiter Vorsitzender des Späti e. V. und der Chef im AK | |
44. Mit 19 hat er das Geschäft von seinem Vater übernommen. Er lehnt hinter | |
dem Tresen des kleinen Ladens, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt, | |
den Oberkörper nach vorne gebeugt. Hi, Ahmet, alles gut bei dir, was macht | |
das Geschäft, wie geht’s der Frau? So geht das im Minutentakt. Kunden | |
kommen, bleiben für einen Plausch oder einen Kaffee, kaufen eine | |
Kleinigkeit und gehen. Die meisten, die an diesem Samstagnachmittag hier | |
sind, kennt Ahmet beim Namen. | |
Da ist zum Beispiel Alexandra, die Theaterregisseurin, die schon seit zehn | |
Jahren hier vorbeikommt und Ahmet mit einem routinierten Highfive begrüßt. | |
Und Aaron, der arbeitslos ist und eigentlich Busfahrer werden wollte, aber | |
gerade zum dritten Mal durch die praktische Prüfung gefallen ist. „Ich hab | |
nur einmal den Schulterblick vergessen, Großer.“ Und Janine mit den | |
arabischen Wurzeln, die gerade einen Deutschen geheiratet hat und witzelt, | |
dass sie ihr Kind jetzt nicht mehr mit Ausländern spielen lasse. | |
Wenn man sie fragt, warum sie hier einkaufen gehen, sagen alle: Der Leute | |
wegen, weil es hier so nett ist, weil man sich nicht nur Hallo und Tschüss | |
sagt und man, wenn das Geld knapp ist, auch mal anschreiben könne – kurz: | |
weil der Späti nicht bloß Transitzone ist. „Einsam einkaufen kann ich auch | |
beim Netto“, sagt einer. | |
Die Wände im AK 44 sind tapeziert mit Polaroids von Stammkunden. Ahmet | |
deutet auf ein Foto: „Guck mal, das ist Titus.“ Mit ihm und seinem Freund | |
Henne hat Ahmet lang in einer Metalband gespielt. Hier im Späti haben sie | |
sich kennengelernt, erzählt er. Die beiden kamen oft nach Feierabend | |
vorbei, redeten mit Ahmet über Gitarrenriffs und Drum-Kits – und irgendwann | |
entschloss er sich, auch Schlagzeug zu lernen. Hinter seinen Tresen stellte | |
er ein Drumpad, wenn nachts wenig los war, übte er. | |
Während Ahmet die Fotos betrachtet und erzählt, macht Burak die Kasse. Er | |
ist einer von insgesamt sieben Leuten, die mit Ahmet im AK 44 arbeiten. | |
Außer Burak sind das noch: Ersin, ein quirliger Mittzwanziger, der, seitdem | |
er 15 ist, in Spätis jobbt. Buraks Bruder Burhan. Mustafa, der 20 Jahre bei | |
Mercedes malochte, aber aufgehört hat, weil er in seinen Träumen nur noch | |
Fließbändern hinterherlief. Ahmets Frau Özgül und seine Eltern. Wenn man | |
den Tag hier verbringt, kommen alle ab und zu mal rein. Um Einkäufe | |
abzulegen und Ware einzuräumen, eine Schicht zu übernehmen oder einfach nur | |
so. Wie so viele Spätis in Berlin ist auch Ahmets Laden ein | |
Familienbetrieb. | |
Mittlerweile ist es Abend geworden. Ahmet tritt vor die Tür. Draußen rollen | |
die Autoreifen über das nasse Laub. Vor einem Altbau mit schneeweißer | |
Fassade, zwei Häuser weiter, stehen vier Männer im fahlen Licht einer | |
Straßenlaterne und trinken Bier. | |
Einer grölt die Hertha-Hymne, ein anderer hämmert mit der Hand den Rhythmus | |
gegen die Rollläden des leerstehenden Ladenlokals im Erdgeschoss. Ahmet | |
schüttelt den Kopf. „Ich schicke die Jungs immer nach da drüben. Die | |
Wohnungen kosten da 'ne halbe Million. Die können sich mit denen | |
rumschlagen“, grinst er. | |
## Wegbier und Olivenöl | |
Man muss nur den Platz überblicken, um zu begreifen, wie sich das Viertel | |
verändert. Am rechten Rand ist eine Kneipe, die „Esco-Bar“ heißt und aus | |
der es so grell blinkt, dass man kaum hinschauen mag. Ein paar Meter weiter | |
die „Gaststätte S-Bahnhof“, halb Trink-, halb Zockerhalle. Am | |
gegenüberliegenden Ende verkauft ein Café Quinoa-Salat für drei Euro | |
fünfzig. Nebenan im Schummerlicht der „Hugo-Ball-Bar“ nippen nachdenklich | |
dreinblickende Menschen an dickbauchigen Rotweingläsern. Ein Ort der | |
Ungleichzeitigkeit. Ahmets Kiosk wirkt wie ein Bindeglied zwischen diesen | |
zwei Welten. | |
„Für uns ist es natürlich auch gut, dass hier alles anders wird“, sagt er. | |
Früher, als er den Laden von seinem Vater übernommen hat, musste er abends | |
um zehn zumachen. Da war nichts mehr los. Heute beginnt seine | |
Hauptgeschäftszeit dann, wenn die Jungen in die Nacht aufbrechen. Auch sein | |
Sortiment hat Ahmet dabei erweitert: Natürlich gibt es für das Wegbier | |
jetzt mehr Auswahl. Aber auch Olivenöl und Dosentomaten, Hundefutter und | |
Klopapier. Bis vor sechs, sieben Jahren kauften die Kunden fast nur Alkohol | |
und Tabak. Heute sei das anders – und entsprechend vielfältiger wurde das | |
Angebot. | |
„Deshalb ist der Sonntag für uns so wichtig. Weil wir da die Sachen | |
verkaufen, die ein bisschen Geld bringen“, sagt Ahmet. An einer Packung | |
Zigaretten verdient er 40 Cent, an einer Flasche Sternburger Bier etwas | |
mehr als 30. An einem guten Sonntag würden sie so viel umsetzen wie sonst | |
in drei Wochen von Montag bis Donnerstag, erzählt er. | |
Die Polizeikontrollen seien für viele Späti-Betreiber eine existenzielle | |
Bedrohung. Deshalb haben sich Ahmet und drei Kollegen vor einigen Monaten | |
in einem Restaurant zusammengesetzt. Man müsse da doch was machen, haben | |
sie sich gesagt. Dann seien sie durch Neukölln gezogen, hätten Läden | |
abgeklappert und für ihre Idee geworben, einen Verein zu gründen, erzählt | |
er. „Das ist natürlich nicht einfach, weil du als Späti immer irgendwie ein | |
Einzelkämpfer bist.“ Aber je höher der Druck, desto größer sei die | |
Bereitschaft, zusammenzuarbeiten. | |
Er selbst sei rund 50 Mal kontrolliert worden. Meist von demselben | |
Polizisten. Ein Neuköllner Oberkommissar, der sich den Ruf als besonders | |
eingefleischter Späti-Gegner erarbeitet hat. Die Bußgeldzahlungen summieren | |
sich bei Ahmet auf tausende Euro. „Wir wissen im Moment nicht, wie es | |
weitergeht“, sagt er. | |
Darum ist er ein Wagnis eingegangen. Stolz zeigt er auf den Laden nebenan. | |
Die Fensterfront ist neu eingebaut. Hell schimmern die Rahmen aus dem | |
Waschbetongrau der Hausfassade. „Da gibt’s bald unsere Pizza.“ Seit einem | |
Jahr renovieren er und seine Freunde den ehemaligen Dönerladen. Sie | |
schlagen die alten Kacheln von den Wänden, streichen, legen Gas- und | |
Wasseranschlüsse. „Ich bin seit zwölf Jahren selbstständig, hab nie einen | |
Beruf gelernt. Darum brauche ich jetzt einen Plan B“, sagt Ahmet. Und eine | |
Pizza könne man auch am Sonntag verkaufen. | |
## Die Nacht beginnt | |
Von einem Glockenturm ein paar Blocks weiter schlägt es Mitternacht. Ahmet | |
schaut auf sein Handy. In ihrer WhatsApp-Gruppe haben sich die Neuköllner | |
Späti-Betreiber am Vortag noch gestritten, ob es in Ordnung sei, sich einen | |
„gesegneten Freitag“ zu wünschen oder ob man diesen religiösen Quatsch | |
besser lassen solle. Heute informieren sie sich gegenseitig, ob die Polizei | |
schon die Sonnenallee abfährt. Um 0.12 Uhr kommt die erste Nachricht. Ein | |
Kollege hat den eifrigen Wachtmeister gesichtet. Mit schnellen Schritten | |
läuft Ersin vom Tresen zur Fensterfront des Spätis. Hastig zieht er an zwei | |
Kordeln. Die Rollläden rattern herunter. | |
Der Platz an der S-Bahn-Station ist dicht bevölkert. Menschengruppen | |
strömen durch die Straßen. Die Nacht an diesem Samstag hat in Berlin gerade | |
erst begonnen. Man könnte sich nun vorstellen, dass Späti-Betreiber sich | |
mit Walkie-Talkies auf der Straße postieren. Dass sie die Zufahrten | |
kontrollieren und den Laden rasch schließen, wenn Gefahr in Verzug ist. Man | |
könnte denken, dass sie sich das Geschäft mit den Partytouristen nicht | |
nehmen lassen wollen. Aber Ahmet sagt nur: „Jetzt ist Feierabend.“ | |
7 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Robert Pausch | |
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