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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Marokko in der Hand des Königs
> Die islamische PJD hat die Parlamentswahl gewonnen. Doch die Macht liegt
> weiter bei Mohammed VI. Kritiker werden verhaftet und gefoltert.
Bild: So inszenieren sich Herrscher gerne: erhaben über dem Pöbel schwebend (…
Houcine, Driss und Abdou sind überzeugt, dass die Politiker nur in die
eigene Tasche wirtschaften: „Wählen gehen? Nie im Leben! Das sind doch
alles Diebe!“ Deshalb sind sie bei den Parlamentswahlen am 7. Oktober nicht
zur Abstimmung gegangen. Die jungen Männer leben in Khouribga, 150
Kilometer östlich von Casablanca.* In der Region gibt es riesige
Phosphatminen. Einziger Arbeitgeber ist das Office chérifien des phosphates
(OCP) – mit 21 000 Beschäftigten das größte Unternehmen Marokkos und nach
China der weltweit zweitgrößte Produzent des wichtigen Düngerrohstoffs.
„Als Arbeiter bei OCP verdienst du 10 000 Dirham (920 Euro) im Monat und
bekommst Zuschüsse für Wohnung und Gesundheitsversorgung“, erzählt Houcine
voller Neid. Sein Vater, der bei OCP angestellt war, ist vor Jahren an
Krebs gestorben. Wegen des Staubs, den er eingeatmet hat, davon ist Houcine
überzeugt. Er selbst ist Schweißer, aber seit fünf Jahren arbeitslos und
ohne staatliche Unterstützung. Wenn er ein paar Tage in der Landwirtschaft
oder auf dem Bau Arbeit findet, bekommt er kaum mehr als einen Euro pro
Stunde. „Es ist zum Heulen!“ In der Gegend ist jedes Dorf von elenden
Hütten umgeben. Kinder in zerlumpten Kleidern führen Esel mit riesigen
Wasserkanistern über staubige Straßen.
Die Resignation der drei Freunde ist typisch für die Stimmung in Marokko.
Von 34 Millionen Einwohnern haben 22 Millionen das Wahlalter (18 Jahre)
erreicht, aber nur knapp 16 Millionen sind als Wähler registriert. Die
Wahlbeteiligung bei den jüngsten Wahlen lag bei 43 Prozent (2011: 45
Prozent), was bedeutet, dass nur knapp 7 Millionen Marokkaner ihre Stimme
abgegeben haben.
Ministerpräsident Abdelilah Benkirane von der Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung (Parti de la justice et du développement, PJD) spielt in den
Augen der Marokkaner keine große Rolle. Die islamische und königstreue
Partei kam 2011 mit 27 Prozent der Stimmen an die Macht und konnte ihr
Ergebnis bei den jüngsten Wahlen auf 31,6 Prozent verbessern. Sie verfolgt
ein wirtschaftsliberales Programm, versucht die Mittelschicht anzusprechen
(Verringerung der Ungleichheit, Bekämpfung der Korruption) und pflegt
konservative Einstellungen (Betonung muslimischer Werte, Ablehnung der
Religionsfreiheit, Schmähung der Homosexualität). „Benkirane ist ein guter
Mann, aber er hat nichts zu sagen“, findet Salah, ein junger Arbeitsloser
in einem Dorf südlich von Rabat, der die Langeweile mit Billardspielen
vertreibt. „Das Sagen hat der König. Bei der Polizei, der Justiz, überall.�…
## Gott auf Erden und Unternehmer
Der junge Mann hat recht. Nach dem kurzen „Arabischen Frühling“ in Marokko
hatte Mohammed VI. dem Volk eine neue Verfassung vorgelegt, die in einem
Referendum am 1. Juli 2011 mit 97,5 Prozent angenommen wurde. Die Allmacht
des Monarchen schränkt sie nicht ein. Die westlichen Botschaften werden
trotzdem nicht müde, die „demokratischen Fortschritte“ im Land zu loben.
Wie sein 1999 gestorbener Vater Hassan II. hat Mohammed VI. den Vorsitz im
Ministerrat und kann das Parlament auflösen, wann immer er will. Der König
ernennt die Richter und die Vorsitzenden der wichtigsten staatlichen
Institutionen.
„Die Verfassungsreform war ein Zugeständnis an die Bewegung des 20.
Februar“, erläutert Mohammed Madani, Professor für Politikwissenschaft an
der Universität Rabat. „Die Berbersprache Tamazight wurde anerkannt, die
Gleichberechtigung von Mann und Frau verkündet und der Islam als
Grundpfeiler des Staats festgeschrieben, um dem Druck der Islamisten
nachzugeben. Aber den harten Kern der Königsmacht berührt die neue
Verfassung nicht. Er bleibt der Dreh- und Angelpunkt des marokkanischen
Systems, der Legislative, Exekutive und Judikative.“ Und selbst der
Finanzen, muss man ergänzen, denn durch die Société nationale
d’investissement (SNI), die zu 60 Prozent der Königsfamilie gehört, ist
Mohammed VI. auch der mächtigste Wirtschaftslenker des Landes.
Die SNI, die 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht (2015),
hat in fast allen Wirtschaftssektoren eine beherrschende Stellung: von den
Banken (Attijariwafa Bank) und Versicherungen (Wafa Assurance) über
Telekommunikation (Inwi), Autohandel (Sopriam, Alleinimporteur von Peugeot
und Citroën) und Großhandel (Supermarktkette Marjane) bis hin zu Immobilien
(Addoha), Tourismus (Atlas Hospitality) und erneuerbaren Energien (Nareva).
Zudem ist der König der größte Landbesitzer Marokkos.
„Das Problem ist nicht unbedingt, dass der König ein Geschäftsmann ist“,
meint der Journalist Omar Brouksy, der ein kritisches Buch über Mohammed
VI. geschrieben hat. „Das Problem sind seine vielen Rollen: Er ist
Unternehmer, aber auch Chef der Exekutive und der Judikative. Dadurch
entsteht eine Wettbewerbsverzerrung.“ Die Unternehmen der SNI gewinnen alle
staatlichen Ausschreibungen, die von hohen Funktionären lanciert werden,
die wiederum der König ernannt hat.
## Der König ist unantastbar
Und was halten die Marokkaner von dieser Situation und von ihrem König,
dessen Privatvermögen das Wirtschaftsmagazin Forbes 2015 auf knapp 6
Milliarden Dollar geschätzt hat? Schwer zu sagen, man kann die Untertanen
Seiner Majestät schließlich nicht danach fragen. Kein Meinungsinstitut,
keine Zeitung würde eine solche Umfrage wagen. Das Gesetz verbietet es
nicht ausdrücklich, aber in der Verfassung (Artikel 46) heißt es: „Die
Person des Königs ist unangreifbar, und jeder schuldet Ihm Respekt.“ Selbst
radikale Politaktivisten wagen kaum, sich dazu zu äußern. „Wenn du den
lieben Gott im Himmel angreifst, sind sie manchmal nachsichtig, aber nicht,
wenn du den Gott auf Erden angreifst“, spottet ein alter linker Kämpfer,
der unter Hassan II. im Gefängnis saß.
„Wir fordern nicht die Abschaffung der Monarchie, sondern die
Demokratisierung der Institutionen“, versichert Nabila Mounib, die
Generalsekretärin der Vereinigten Sozialistischen Partei (Parti socialiste
unifié, PSU), der regimekritischsten Partei des Landes. „Wir sind für eine
parlamentarische Monarchie mit einem König, der repräsentiert, aber nicht
regiert, das heißt für eine echte Gewaltenteilung.“
Am mutigsten sind wohl die Vertreter der verbotenen islamistischen Partei
„Gerechtigkeit und Wohltätigkeit“ (Jamaâ Al-Adl Wal Ihsane), die unter
Hassan II. unterdrückt wurde und von Mohammed VI. gerade so toleriert wird.
Gegründet wurde die Bewegung, die sich für die Ärmsten der Armen einsetzt
und die Monarchie radikal ablehnt, im Jahr 1973 von dem 2012 verstorbenen
Islamgelehrten Abdessalam Yassine. Er war in Casablanca als
Aufsichtsbeamter für die Schulen zuständig und saß lange im Gefängnis, weil
er die höchste Autorität des Königs in Glaubensfragen nicht anerkennen
wollte.Gegen seine Tochter Nadia Yassine gab es 2011 eine Rufmordkampagne
wegen einer angeblichen heimlichen Liebschaft – eine bewährte Methode des
Machtapparats, um Gegner zu diskreditieren. Mehrfach wurde sie verurteilt,
weil sie erklärt hatte, sie ziehe die Republik der Monarchie vor.
Die Jamaâ (Arabisch für „Bewegung“) hat ihren Sitz in Salé, der
Nachbarstadt von Rabat, darf jedoch nirgends sonst im Land öffentliche
Versammlungen durchführen. „Wir wollen einen echten demokratischen Wandel
in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien des Islams“, erklärt Mohamed
Hamdaoui, ein führendes Mitglied der Jamaâ. „Im Sinne der Wohltätigkeit
sind unsere Anhänger überall dort aktiv, wo der Staat die Ärmsten der Armen
im Stich lässt. In Marokko leben 12 Millionen Menschen, die weniger als
zwei Dollar am Tag zur Verfügung haben. Der König ist sehr reich. Das ist
an sich nichts Schlechtes. Aber für uns Muslime kommt es darauf an, ob
dieser Reichtum ehrlich erworben wurde und ob genug an die Armen verteilt
wird. Zwischen 2011 und 2016 ist das Vermögen des Königs stark angewachsen
und die Armut auch. Das ist nicht normal!“
## Kritiker werden gefoltert
Auch Houcine und seine Freunde wissen, dass der königliche Reichtum
angesichts eines so armen Volks nicht „normal“ ist. 2011 waren sie bei den
Demonstrationen in Khouribga dabei. „Wir wollten nicht das System
verändern, wie die Demonstranten in Casablanca oder Rabat. Wir wollten
einfach nur Arbeit.“ Manche erhielten eine Anstellung bei OCP, aber keiner
der jungen Männer war darunter. Würden sie heute an einer Demonstration
teilnehmen, die fordert, dass der König seine politische Macht abgibt und
seinen Reichtum verringert, indem er zum Beispiel Krankenhäuser baut und
Ärzte bezahlt, die überall im Land fehlen? „Das ist doch Science-Fiction!�…
ruft Abdou. „So eine Demonstration wird es nicht geben. Und wenn doch,
würden sie dich auf der Stelle verhaften und ins Gefängnis stecken.“
Solche Ängste sind nicht unbegründet. Und die Hoffnungen, die 1999 nach dem
Tod des autoritären Königs Hassan II. aufgekommen waren, sind längst
verflogen. Der war berüchtigt für das systematische Foltern seiner Gegner.
Auch heute wird wieder gefoltert, vor allem in der 15 Kilometer von Rabat
entfernten Stadt Temara, wo der Geheimdienst DGST (Direction générale de la
surveillance du territoire) ein Gefängnis betreibt.
Die Folteropfer sind Personen, die laut CIA unter Terrorismusverdacht
stehen, aber auch normale Marokkaner, die sich das Missfallen des Regimes
zugezogen haben. Zwischen 2010 und 2014 hat Amnesty International 173 Fälle
von Folter registriert. Ein Opfer, der Exweltmeister im Thaiboxen Zakaria
Moumni, löste eine diplomatische Verstimmung zwischen Paris und Rabat aus,
als er dem Geheimdienstchef Abdellatif Hammouchi vorwarf, mehrfach bei
seinen Peinigungen dabei gewesen zu sein.
Nach einer Phase der Öffnung hat sich die Lage der individuellen
Freiheitsrechte in zwei Schüben verschlechtert. Nach den Terroranschlägen
vom 16. Mai 2003 in Casablanca, bei dem es 45 Tote (darunter 12
Selbstmordattentäter) und 100 Verletzte gab, kündigte der König „das Ende
der Nachgiebigkeit“ an. Demonstrationen wurden verboten, die Teilnehmer ins
Gefängnis gesteckt.
## Willkürliche Verhaftungen
Im Frühjahr 2011, als die Proteste deutlich zunahmen, musste das Regime den
Druck etwas mildern. „Aber als die Regierung gemerkt hat, dass der Bewegung
die Puste ausging, wurden alle gewährten Freiheiten wieder zurückgenommen“,
berichtet Ahmed El-Haij, der Präsident der Marokkanischen Vereinigung für
Menschenrechte (Association marocaine des droits humains, AMDH). Außer
dieser mitgliederstarken Menschenrechtsorganisation wagt es niemand mehr,
die Übergriffe des Regimes gegen die Bürger anzuprangern. „Allein 2015
haben wir 251 willkürliche Verhaftungen registriert, meistens am Rande
friedlicher Demonstrationen.“ In den letzten Monaten wurden auch die
Spielräume der AMDH stark eingeschränkt. Seminare, Treffen, Kolloquien,
alles wird verboten. „Wenn wir in einem Hotel einen Raum für eine
Veranstaltung reservieren, rufen die Behörden den Direktor an und
verlangen, dass er uns absagt.“
Die Angst vor Repressionen ist nicht der einzige Grund, weshalb Houcine und
seine Freunde – ebenso wie viele andere im Land – nicht gegen das System
und den König aufbegehren. „Die Selbstdarstellung von Mohammed VI. ist sehr
raffiniert“, sagt Omar Brouksy. „Und sie funktioniert. Die meisten Menschen
sind überzeugt, dass er ein einfacher, volksnaher Monarch ist.“
Ein wichtiges Propagandainstrument ist die Nationale Initiative für
menschliche Entwicklung (Initiative nationale pour le développement humain,
INDH), die Mohammed VI. 2005 ins Leben gerufen hat. Ihr Budget – angeblich
alle zehn Jahre eine Milliarde Euro – verteilt die INDH an Tausende
Kleinprojekte (Vereinslokale, Jugendtreffs, Krankenhäuser,
Frauenkooperativen), deren Wirksamkeit im Kampf gegen die extreme Armut –
ihr offizielles Ziel – nie untersucht wird. Aber sie erlaubt „Seiner
Majestät, dem König“, sich beliebig oft dabei fotografieren zu lassen, wie
er den Ärmsten zu Hilfe kommt, zumal er sich auf eine willfährige Presse
verlassen kann (siehe Artikel unten). Auch frühere Oppositionsvertreter
sind ihm wohlgesinnt, nachdem er ihnen wichtige Posten und eine schöne
Rente verschafft hat.
Außerdem verkörpert der König die marokkanisch-muslimische Identität. Er
bezeichnet sich als „Anführer der Gläubigen“ (amir al-mouminine). Ein Emir
als Garant des „wahren Islam“, der nichts mit dem dschihadistischen
Extremismus zu tun hat. „Die Macht in Marokko bezieht ihre Legitimität seit
jeher aus der Religion“, erinnert Moulim El-Aroussi, Philosophieprofessor
an der Universität Casablanca. „Den König anzugreifen ist mehr oder weniger
das Gleiche, wie den Islam anzugreifen.“ Hinter der Fassade eines
„toleranten Islam“, die man den Touristen und westlichen Regierungen
präsentiert, gibt es in Marokko keinerlei Religionsfreiheit. „Ihr Christen
habt das Recht, Christen zu sein, kein Problem“, sagen sie in einem Café in
der im Landesinnern gelegenen Stadt Beni Mellal. „Aber ein Marokkaner, der
sagt, er sei kein Muslim? Das kann ich nicht akzeptieren.“
## Protestbewegung am Ende
Die Pflicht, Muslim zu sein, ist vor allem während des Ramadan spürbar.
Außer in einigen Touristenorten ist es in ganz Marokko streng verboten, in
der Öffentlichkeit gegen das Fastengebot zu verstoßen. Houcine findet das
vollkommen normal, das sei eine Frage des Respekts. „Wenn ich von meinem
eigenen Bruder erfahren würde, dass er den Ramadan nicht einhält, würde ich
nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen!“
2009 wagten ein Dutzend junger Leute aus der gebildeten Mittelschicht, die
sich als „dé-jeûneurs“ (Nichtfaster) bezeichneten, eine provokative Aktion
im Badeort Mohammedia. Während des Ramadan luden sie zu einem öffentlichen
Mittagspicknick ein. Sie wurden sofort verhaftet, und auch die Bevölkerung
reagierte mit Ablehnung. Inzwischen hat auch die Linke den Kampf
aufgegeben. „Wenn vor zehn Jahren während des Ramadan eine Demonstration
stattfand, konnte ich an einem Brunnen stehenbleiben und Wasser trinken“,
erinnert sich Touria Tanani, die Vertreterin der sozialistischen PSU in
Bani Mellal. „Das wäre heute unvorstellbar. Man würde mich lynchen!“ Selb…
bei geschlossenen PSU-Versammlungen holt während der Fastenzeit niemand
seine Wasserflasche aus der Tasche.
Obwohl also auch linke Organisationen den Islam als Staatsreligion
akzeptieren, sind sie doch nicht bereit, den Islamisten von Jamaâ Al-Adl
wal Ihsane die Hand zu reichen, die heute als einzige Bewegung die
Volksmassen erreichen. Im Frühjahr 2011 hatte sich die Jamaâ an der
„Bewegung des 20. Februar“ beteiligt, sich im Dezember jedoch plötzlich
zurückgezogen und damit den Niedergang der Bewegung eingeläutet.
„Mit diesen Leuten zusammenarbeiten?“, empört sich ein alter Linksaktivist.
„Niemals! Ich bin nicht religiös!“ Dabei zeigt die Entwicklung in Ägypten
und Tunesien, dass ein Bündnis zwischen Linken und Islamisten die einzige
Möglichkeit wäre, um die Kräfteverhältnisse zu verändern.
## Patriarchalische Mentalität
Vielleicht gibt es für die Vorbehalte gegen Veränderungen aber noch tiefer
liegende Gründe. Youssef Elfoutouhi, 38, Philosophielehrer an einem
Gymnasium in Casablanca, hatte sich voller Enthusiasmus in der Bewegung vom
Frühjahr 2011 engagiert. Dann erkannte er deren Grenzen. „Grund für das
Scheitern ist auch die patriarchalische Mentalität, die nicht nur unser
Denken bestimmt, sondern auch unser Verhältnis zum König, zu unseren
Eltern, unseren Vorgesetzten und sogar zum Gewerkschafts- oder
Parteisekretär. Wir meinen immer, dass wir ihnen Respekt schulden, und
haben ein schlechtes Gewissen, wenn wir ihre Autorität infrage stellen.
Wenn die Marokkaner emanzipierte Staatsbürger werden wollen, müssen sie den
Vater in all seinen Verkörperungen symbolisch töten.“
Fünf Jahre nach dem Aufruhr vom Frühjahr 2011 ist die Protestbewegung am
Ende. In Beni Mellal sind die Menschen zuletzt im März 2016 auf die Straße
gegangen, nachdem man zwei Homosexuelle angegriffen hatte. Ein Dutzend
Bewohner des Viertels Aït T’haïch war in ihr Haus eingedrungen und hatte
sie blutig geschlagen, andere filmten und stellten das Video ins Internet.
„Beim Prozess gegen die Schläger hat das ganze Viertel demonstriert, und
zwar für die Schläger“, erzählt die PSU-Funktionärin Touria Tanani, die a…
Einzige auf der Seite der Opfer stand.9 Homophobie ist in Marokko auch bei
Linken keine Seltenheit.
Für Professor El-Aroussi ist die Bewegung des 20. Februar „noch nicht ganz
tot. Sie besteht in kleineren kulturellen Initiativen und in den sozialen
Netzen fort. Auf jeden Fall ist die Mauer der Angst gefallen, die Leute
wagen sich auf die Straßen und demonstrieren, ohne nach einer Genehmigung
zu fragen.“ In Rabat und Casablanca (sehr viel weniger in der Provinz) gibt
es tatsächlich immer wieder Demonstrationen, bei denen sich ein paar
hundert Teilnehmer versammeln: arbeitslose Hochschulabsolventen,
Referendarinnen, Rentner, Ärztinnen.
Aber solche Proteste zeigen kaum Wirkung, und sie richten sich
ausschließlich gegen die Regierung. „Benkirane, hau ab!“, rufen die
Teilnehmer. Aber welche Macht hat der Ministerpräsident schon? „Ich weiß,
dass er überhaupt keine hat“, antwortetet Zorah al-Houria, die wir am Rand
einer Demonstration treffen. Sie ist promovierte Umweltwissenschaftlerin
und wartet seit drei Jahren auf einen Job im öffentlichen Dienst. „Man darf
hier den Namen des Königs ja nicht aussprechen, also schimpfen wir eben auf
die Regierung.“ Die junge Frau hat sich wie viele ihrer Freunde an der
Bewegung des 20. Februar beteiligt. Aber jetzt hofft sie nur noch, dass ihr
jemand Arbeit gibt.
* Die Namen der Gesprächspartner und ihrer Dörfer wurden geändert. In allen
Ortschaften, die wir besucht haben, wusste der Caïd (der Vertreter des
Innenministeriums) sofort Bescheid und erkundigte sich hinterher über den
Gesprächsverlauf.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
13 Oct 2016
## AUTOREN
Pierre Daum
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