| # taz.de -- Buch über Stasi und Grüne: ZuträgerInnen aus dem Parteiinneren | |
| > Im Auftrag der Grünen haben die WissenschaftlerInnen Jens Gieseke und | |
| > Andrea Bahr erforscht, wie umfassend die Stasi die Partei bespitzelt hat. | |
| Bild: Grüner Besuch bei Erich Honecker 1983: Dirk Schneider (IM „Ludwig“),… | |
| Der Kommentar von Bärbel Bohley und Ralf Hirsch fiel deftig aus. „Auch der | |
| Westen hat seine Eiterbeulen“, schrieben die einstigen DDR-Oppositionellen. | |
| „Eine ist geplatzt.“ Bohley und Hirsch zielten in ihrem Gastbeitrag im | |
| Oktober 1991 in der taz auf den früheren Grünen-Politiker Dirk Schneider, | |
| der als Stasi-Informant enttarnt worden war. Verbittert rekapitulierten die | |
| beiden Mitglieder der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung einen Besuch | |
| Schneiders Mitte der achtziger Jahre: „Jetzt wissen wir, draußen stand die | |
| Stasi und schickte uns ihren Abgesandten des Deutschen Bundestages in die | |
| Küche.“ | |
| Dass Schneider nicht ganz koscher war, hatte Bohley allerdings schon Jahre | |
| vor dem Untergang der DDR vermutet. Bereits 1985 erzählte sie dem damaligen | |
| grünen Bundesvorstandssprecher Lukas Beckmann von ihrem Verdacht. Und das | |
| Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wusste dank seines umfassenden | |
| Spitzelsystems davon. Das dokumentieren Jens Gieseke und Andrea Bahr vom | |
| Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam in ihrem gerade | |
| erschienenen Buch „Die Staatssicherheit und die Grünen“. | |
| Schneider, von 1983 bis 1985 deutschlandpolitischer Sprecher der grünen | |
| Bundestagsfraktion und anschließend bis 1989 Pressesprecher der | |
| Westberliner Alternativen Liste (AL), war die ergiebigste Quelle, aus der | |
| die Stasi schöpfen konnte. Aber der IM „Ludwig“ war bei Weitem nicht die | |
| einzige. | |
| Insgesamt lieferten rund 450 bis 500 Quellen Informationen, haben Gieseke | |
| und Bahr in ihrer im Auftrag der Grünen erstellten Studie herausgefunden. | |
| Die Anzahl hochkarätiger ZuträgerInnen, die aus dem Inneren des grünen | |
| Parteilebens berichten konnten, beziffern sie „auf insgesamt rund 15 bis | |
| 20“. | |
| Darüber hinaus profitierte der DDR-Geheimdienst bei seiner | |
| Informationsgewinnung von der Naivität grüner Funktionäre, die die | |
| Abhörmöglichkeiten von Telefonaten aus dem damals noch in Bonn beheimateten | |
| Bundestag nach Westberlin dramatisch unterschätzten. „So sind | |
| Wortprotokolle von Abgeordneten überliefert, in denen sie detailgenau an | |
| West-Berliner Partner mitteilten, wann sie am folgenden Tag über welchen | |
| Grenzübergang Materialien für die DDR-Opposition zu schmuggeln | |
| beabsichtigten“, konstatieren Gieseke und Bahr. | |
| ## Widersprüchliche Strategie | |
| Das hätte fatale Folgen zeitigen können. Aber die Stasi konnte nicht so, | |
| wie sie es gern gewollt hätte, da ihr Agieren „in jeder Phase den Maßgaben | |
| der SED-Führung untergeordnet“ war. Die aber wusste nicht so recht, was sie | |
| mit der neuen Partei anfangen sollte. | |
| Akribisch arbeiten Gieseke und Bahr heraus, welche ideologischen – und | |
| daraus resultierenden praktischen – Probleme die DDR im Umgang mit den | |
| Grünen hatte. Denn die 1980 gegründete Partei passte nicht in ihr Raster. | |
| Einerseits war sie die einzige im Bundestag vertretene Partei, die für eine | |
| vollständige völkerrechtliche Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat | |
| plädierte. Zudem waren die Grünen ein wichtiger Teil der bundesdeutschen | |
| Friedensbewegung und galten somit als potenzieller Bündnispartner im Kampf | |
| gegen den Nato-Doppelbeschluss. | |
| Als VerfechterInnen eines blockübergreifenden Politikansatzes unterstützten | |
| sie andererseits aktiv die unabhängigen Friedens- und Umweltgruppen in der | |
| DDR und mischten sich mit spektakulären Aktionen, wie der auf dem | |
| Ostberliner Alexanderplatz im Mai 1983, offensiv in die inneren | |
| Angelegenheiten der DDR ein. Was ebenfalls für eine Bundestagspartei ein | |
| Alleinstellungsmerkmal war und die SED-Oberen schwer erzürnte. | |
| Auf diese „Doppelstrategie“ fand die Staats- und Parteiführung um Erich | |
| Honecker keine konsistente Antwort, da sie die Grünen weder völlig | |
| verprellen noch einfach gewähren lassen wollte. Das führte zu einer | |
| widersprüchlichen Strategie. So folgten auf Phasen größtmöglicher | |
| Rigorosität – bis hin zu einem im November 1983 verhängten kollektiven | |
| Einreiseverbot für alle Mitglieder und SympathisantInnen der Grünen – | |
| Entspannungsperioden, die emsige Ost-West-AktivistInnen wie Petra Kelly, | |
| Gert Bastian, Lukas Beckmann, Heinz Suhr oder Wilhelm Knabe stets sofort | |
| wieder zur Kontaktaufnahme mit der DDR-Opposition nutzten. „Die eigentliche | |
| Grundkonstante der Einreisepolitik des SED-Regimes gegenüber den Grünen war | |
| folglich Inkonsistenz“, so Gieseke und Bahr. | |
| ## „Ständige Vertretung der DDR bei den Grünen“ | |
| Spektakuläre personelle Enthüllungen haben die beiden ForscherInnen nicht | |
| zu bieten. Ob es sich um die taz-Redakteurin und spätere grüne | |
| Europaabgeordnete Brigitte Heinrich („Beate Schäfer“), ihren | |
| Lebensgefährten und Ex-RAF-Anwalt Klaus Croissant („Taler“) oder die | |
| BundestagsfraktionsmitarbeiterInnen Doris („Dagmar“) und George („Faber�… | |
| Pumphrey handelt: Wie Schneider wurden solche Spitzenquellen schon | |
| Anfang/Mitte der 1990er Jahre enttarnt. | |
| Dass sie nicht nur die Grünen ausgespäht haben, sondern auch als gesteuerte | |
| Einflussagenten agierten, vermuten zwar Gieseke und Bahr und bringen dafür | |
| auch einige starke Indizien. Aber definitive Beweise können sie aufgrund | |
| der dürftigen Aktenlage nicht vorlegen. Fest steht allerdings, dass | |
| insbesondere der 2001 verstorbene Schneider stets ideologisch so stramm auf | |
| SED-Linie argumentierte, dass ihn nicht nur Joschka Fischer bereits 1983 | |
| als „ständige Vertretung der DDR bei den Grünen“ titulierte. | |
| Bei anderen Spitzeln gelang es auch den Potsdamer WissenschaftlerInnen | |
| nicht, ihren Decknamen zweifelsfrei zu enträtseln. So wie im Fall des IM | |
| „Steinweg“, bei dem das Profil der Nachrichtenlieferungen darauf hindeutet, | |
| dass es sich wohl um einen ursprünglich aus dem Kommunistischen Bund | |
| stammenden Bundestagsfraktionsmitarbeiter handelt. | |
| Bislang ebenso unenttarnt geblieben ist der IM „Sputnik“, der von 1968 an | |
| zunächst vorwiegend aus maoistischen Gruppen und anschließend aus der AL | |
| berichtete. Im Sommer 1984 brachen seine Informationslieferungen abrupt ab. | |
| „Denkbar wäre der Abbruch der Zusammenarbeit oder die Enttarnung durch die | |
| westliche Spionageabwehr“, spekulieren Gieseke und Bahr. | |
| Bemerkenswert ist, dass das MfS zur Ausspähung der Grünen und der AL auch | |
| auf „überworbene“ Agenten anderer Dienste zurückgriff. Schillernde | |
| Beispiele sind der IM „Messias“, der gleichzeitig für den Geheimdienst des | |
| südafrikanischen Apartheidregimes arbeitete, und der IM „Amir“, der bis | |
| 1980 im Sold des persischen Savak stand und danach für das Berliner | |
| Landesamt für Verfassungsschutz als V-Mann „Reuter“ spitzelte – wobei das | |
| MfS über die Mehrfachanbindung genauestens informiert war. Unklar bleibt, | |
| ob davon auch die Konkurrenz wusste. | |
| Das ist denn auch die große, wenn auch nicht den AutorInnen anzulastende | |
| Schwäche des Buchs. Es gehöre „zu den empfindlichen Leerstellen der | |
| Quellenlandschaft, dass die Aktivitäten westlicher Geheimdienste so gut wie | |
| gar nicht mit Archivmaterial ergründet werden können“, schreiben Gieseke | |
| und Bahr. | |
| So bleibt dank fehlender Aktenöffnung das Treiben des westdeutschen | |
| Verfassungsschutzes gegenüber den Grünen nach wie vor weitgehend im | |
| Dunkeln. Dabei gäbe es auch hier sicher einiges Interessantes zu finden. | |
| Darauf weist jedenfalls der kleine Einblick, den der erste rot-grüne Senat | |
| in Berlin zwischen 1989 und 1990 möglich gemacht hatte. Damals kam heraus, | |
| dass das Berliner Landesamt über insgesamt 65 V-Leute in dem grünen | |
| Landesverband verfügte – eine Anzahl, von der das MfS nur träumen konnte. | |
| 30 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Pascal Beucker | |
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