# taz.de -- Nachruf auf Hans-Jochen Tschiche: Der Unerschrockene | |
> Er war federführend in der DDR-Opposition und fädelte später die erste | |
> PDS-geduldete Koalition ein. Bis zuletzt mischte sich Tschiche ein. | |
Bild: Hans-Jochen Tschiche im Jahr 2012. | |
„Herr Tschiche, was sollen wir denn jetzt machen? Helfen Sie uns!“ flehte | |
der SED-Fürst des Bezirkes Magdeburg im Wendeherbst 1989. Und was | |
antwortete Hans-Jochen Tschiche, Leiter der evangelischen Akademie in | |
Magdeburg und DDR-weit einer der wichtigsten Köpfe der Opposition? „Wir | |
wollen Ihr Handeln kritisch begleiten!“ Tschiche flötete immer besonders | |
friedfertig und bieder, wenn er diese Antwort später zum Besten gab - und | |
donnerte anschließend über so viel Blödheit. | |
Da präsentieren die abgewirtschafteten Eliten die Macht auf dem Tablett und | |
die Opposition greift nicht zu. Die Bürgerrechtler blieben Türöffner, zu | |
den Schaltstellen sind dann andere marschiert, reichlich CDU-Blockflöten, | |
Westimporte und namenlose Wendefiguren, etwa eine gewisse Angela Merkel. | |
„Runder-Tisch-Komplex“ nannte Tschiche diese Naivität und konnte später | |
herzhaft lachen. Zur Macht hat er dann 1994 gegriffen. Tschiche, seit 1990 | |
Fraktionsvorsitzender von Bündnis90/Grüne im Magdeburger Landtag, fädelte | |
1994 mit Reinhard Höppner das „Magdeburger Modell“ ein. Eine | |
Minderheitsregierung von SPD und Grünen unter Tolerierung der | |
SED-Nachfolgerin PDS. Vier Jahre nach dem Wendeherbst war das für viele, | |
insbesondere für viele Bürgerrechtler, eine Zumutung. Erstmals hatte die | |
PDS wieder einen Fuß in der Tür. | |
Der Preis für die erste Regierungsbeteiligung der Grünen in Sachsen-Anhalt | |
- und die zweite und vorerst letzte in einem ostdeutschen Bundesland - war | |
Tschiche nicht zu hoch. Zumindest einem Teil der PDS-Genossen gestand er | |
zu, dass sie sich gewandelt haben. Da legte er sich auch mit den | |
Bürgerrechtlern an. | |
## Überall federführend | |
„Wir waren doch schon mit dem Runden-Tisch-Komplex geboren“, witzelte er. | |
Dass man einmal selbst eine Regierung stellen könnte, schien vor dem Herbst | |
1989 so abwegig, dass man so etwas nur zu später Stunde und als absurdes | |
Theater durchspielen konnte. So geschehen im Sommer 1989 in Tschiches | |
Pfarrhaus in den Nähe von Magdeburg. Da war Tschiche, Jahrgang 1929, schon | |
längst einer der führenden Köpfe der DDR-Opposition. Die Proteste gegen den | |
Einmarsch der Sowjets 1968 in die Tschechoslowakei und 1976 gegen die | |
Biermann-Ausbürgerung, die Friedensbewegung, das „Neue Forum“ - überall w… | |
Tschiche federführend mit dabei. | |
Dass so einer die DDR überhaupt schadlos überstehen konnte, wirkt in der | |
Rückschau wie ein Wunder. Ein Heer an Stasi-Spitzeln, regelrechte | |
Verfolgungsjagden auf der Straße, die Familie in Sippenhaftung, | |
systematische Verleumdung und der permanente Druck von der Kirchenleitung, | |
die Tschiche gern in das hinterletzte Kaff versetzt hätte - andere wären | |
zerbrochen. Und Tschiche? Die Fotos von Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther | |
King, der Theologin Dorothee Sölle und Robert Jungk, einer der Vorreiter | |
der Umwelt- und Friedensbewegung, hingen hinter Glas vereint in seinem | |
Arbeitszimmer. | |
Unerschrockenheit, ein fast schon antiquiertes Wort, wäre passend, Luther | |
darin nicht unähnlich. „Ein ungepflegter Grauhaariger mit dicker Brille las | |
Texte“ notierte einmal ein Spitzel und hatte durchaus gut beobachtet. | |
## Trittbrettfahrer Gauck | |
Tschiche, der Bäckerssohn aus der Dübener Heide, lachte über das | |
Kleinbürgertum der DDR, das sich bis heute erhalten hat. „Der Osten ist | |
einfach deutscher und antiwestlicher“, lautete seine Analyse. Weggegangen | |
ist er trotzdem nicht. Er wurde einer der profiliertesten Grünen im Osten | |
Deutschlands und einer der brillantesten Parlamentsredner. Das „Magdeburger | |
Modell“ brachte den Grünen dennoch kein Glück. 1998 flogen sie aus dem | |
Landtag. Die SPD ließ sich bis 2002 weiter von der PDS tolerieren, ohne | |
Juniorpartner. | |
Tschiche mischte in Sachsen-Anhalt weiter mit, wurde Vorsitzender des | |
Vereins „Miteinander“, der Programme gegen Rechtsextremismus organisiert | |
und meldete sich 2012 zu Wort, als Joachim Gauck zum Bundespräsidenten | |
gewählt wurde. Ein Trittbrettfahrer sei Gauck, der „ohne Skrupel“ auf dem | |
Ticket des Bürgerrechtlers durchs Land reise, dabei sei Gauck als Teil der | |
konservativen westlichen Gesellschaft „die falsche Person“. | |
Als sich 2012 zwei ehemalige Sexualstraftäter in dem Dorf Insel in der | |
Altmark niederließen und es über Monate Proteste der Dorfbewohner gab, die | |
kräftig von Rechten befeuert wurden, war es Tschiche, der im Hintergrund | |
versuchte, die Wogen zu glätten. Die beiden Männer fanden bei Tschiche, dem | |
ollen Pfarrer, Rückhalt. „Für die bin ich so etwas wie ein Vater geworden�… | |
resümierte Tschiche im März 2013, lachte und ging vors Haus, um noch eine | |
zu rauchen. Am Donnerstag ist Hans-Jochen Tschiche im Alter von 85 Jahren | |
in Magdeburg gestorben. | |
26 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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