# taz.de -- Debatte Britische Militärinterventionen: Erbe der Friedensbewegung… | |
> Die britische Aufarbeitung der Kriegseinsätze lehrt: Man muss nicht | |
> kompetent sein, um militärisch zu intervenieren, Nein sagen hilft aber. | |
Bild: Früher musste sich rechtfertigen, wer für einen Kriegseinsatz war – s… | |
Nur wenige wagen es heutzutage, in Fragen internationaler Politik eine | |
Position abseits vom Mainstream einzunehmen. Alles scheint so komplex – wie | |
lässt sich da ohne eigenen Thinktank selbstbewusst den herrschenden | |
politischen Apparaten widersprechen? Sind wir ihnen nicht hoffnungslos | |
unterlegen? | |
Medizin gegen den Kleinmut kam jüngst aus London. Zwei offizielle | |
Untersuchungsberichte stellen den britischen Interventionen in Irak und | |
Libyen ein vernichtendes Zeugnis aus. Der Bericht der sogenannten | |
Chilcot-Kommission zum Irakkrieg wurde im Juli veröffentlicht, der | |
Libyen-Bericht des Unterhaus-Ausschusses für auswärtige Politik erschien | |
vor Kurzem; beide sind im Netz zu finden. | |
Die Bedeutung dieser Befunde ist kaum zu überschätzen. Aus der Mitte | |
westlicher Politik heraus werden jene Vorwürfe belegt, die einzelne | |
Nahost-Experten und zivilgesellschaftliche Kräfte seit Langem erheben: Die | |
westliche Interventionspolitik hat das blutige Chaos in zwei Regionen nicht | |
nur begünstigt, sondern entscheidend mit herbeigeführt. | |
Die Regime-change-Intervention gegen Gaddafi 2011 hatte aus Sicht des | |
mehrheitlich konservativ besetzten Unterhaus-Ausschusses folgendes | |
Ergebnis: „politischer und ökonomischer Zusammenbruch (…), humanitäre und | |
Flüchtlingskrise, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen, Verbreitung | |
der Waffen des Gaddafi-Regimes über die Region und Wachstum des Islamischen | |
Staats in Nordafrika“. | |
Nur nebenbei: Wie viel ein Politiker auf eine Demokratie gibt, die er | |
angeblich anderswo installieren will, zeigt der Umstand, dass | |
Noch-Premierminister David Cameron als Einziger eine Aussage vor dem | |
Parlaments-Ausschuss verweigerte. | |
Im Fall des von Tony Blair mitverantworteten Irakkriegs sticht der Aufwand | |
hervor, den die Chilcot-Kommission trieb: Unter Vorsitz des altgedienten | |
Beamten Sir John Chilcot wurden sieben Jahre lang Zeugen befragt und | |
150.000 Dokumente ausgewertet. Das kostete mehr als 10 Millionen britische | |
Pfund. | |
Greifen wir nur einen Aspekt des zwölfbändigen Werks heraus: Bis 2009 habe | |
die Invasion im Irak und die folgende Instabilität mindestens 150.000 meist | |
zivile Opfer gehabt, „wahrscheinlich viel mehr“. | |
## Moralisches Gewicht verschiebt sich | |
Frühere Studien kamen auf wesentliche höhere Zahlen, auf bis zu eine | |
Million Tote bis 2013. Aber selbst wenn man der vorsichtigen Schätzung der | |
britischen Kommission folgt, verschiebt sich das moralische Gewicht. Durch | |
die Politik des Westens sind viel mehr Menschen gestorben als durch jene, | |
die man zu bekämpfen gedachte. | |
Es fällt uns immer noch schwer, die Tragweite eines solchen Satzes wirklich | |
in unser Bewusstsein vordringen zu lassen. Unser Kleinmut resultiert aus | |
moralischer Verkennung. | |
Seine zweite Ursache ist die vermeintliche Wissensüberlegenheit der | |
Apparate. Und da geht aus den britischen Berichten etwas verblüffend | |
Simples hervor: Es gab keine ausreichende Kenntnis der Lage, der Natur der | |
Konflikte oder überhaupt der Länder. | |
„No proper understanding of Libya“, konstatierte der Ausschussvorsitzende | |
Crispin Blunt lapidar. Um eine Militärintervention anzuordnen, muss man | |
anscheinend nur sehr wenig wissen. Das verbindet alle Kriegseinsätze der | |
vergangenen Jahre, von Afghanistan bis Mali. | |
## Erbe der Friedensbewegung zerstört | |
Und wie haben die deutschen Medien gedrängelt, im Fall Libyen: Es sei | |
„verantwortungslos“, sich herauszuhalten! Früher war es | |
begründungspflichtig, einem Krieg zuzustimmen. Heute ist es extrem | |
begründungspflichtig, dagegen zu sein. | |
Mehr als ein Jahrzehnt War on Terror haben das intellektuelle Erbe der | |
Friedensbewegung weitgehend vernichtet. Viele halten sich heute lieber | |
heraus, selbst wenn sie ein ungutes Gefühl haben. Schlicht „Nein“ zu sagen | |
ist als Option geächtet. | |
Deshalb ist es so wichtig, einmal ganz systemimmanent den Nachweis von | |
Inkompetenz zur Kenntnis zu nehmen, den die britischen Dokumente enthüllen. | |
Nein zu sagen kann klug und lebensschützend sein. Dies sollte in Zeiten | |
allgemeiner Verunsicherung festgehalten werden: Wer gegen diese | |
Interventionen war, hatte recht – und hat im Rückblick noch viel | |
furchtbarer recht bekommen. | |
Lange galt es als irre Vorstellung, die Verantwortlichen des Irakkriegs für | |
Kriegsverbrechen anzuklagen. Nun wurde die Frage immerhin für einen Moment | |
in den Fluren des Mainstreams erwogen. | |
## Wer ist haftbar zu machen? | |
Der Vorsitzende der Chilcot-Kommission gab eine gewundene Antwort: Ob der | |
Krieg im Irak legal war, könne nur von einem international anerkannten | |
Gericht entschieden werden. „Wir haben jedoch geschlussfolgert, dass die | |
Umstände, unter denen entschieden wurde, es gäbe eine gesetzliche Basis für | |
die britische Militäraktion, fern von zufriedenstellend waren.“ | |
Wenn man bedenkt, dass ein malischer Lehrer am Dienstag in Den Haag zu neun | |
Jahren Haft verurteilt wurde, weil er aus islamistischen Motiven das | |
Zerhacken von Lehm-Mausoleen angeordnet hat, dann müsste Tony Blair schon | |
längst dort stehen. Oder darf eine Politik, die Zigtausende das Leben | |
kostete, ungeahndet bleiben, während wir den Afrikanern zeigen, wie man | |
Kulturgut schützt? | |
Im Fall von George W. Bush sind wir so nachsichtig, uns darüber zu freuen, | |
dass er Hillary Clinton wählen will. Cameron verstolperte sich über seine | |
Anti-Brexit-Strategie, und Tony Blair gilt nun als geldgierige Type. Was | |
sind das für Maßstäbe, wenn wir sie für einen Moment mit den Augen von | |
Menschen außerhalb unseres politisch-kulturellen Gedankenkäfigs betrachten? | |
Es ist falsch, bei jedem dschihadistischen Anschlag zu argumentieren, | |
eigentlich sei westliche Politik daran schuld. Für jeden Mord ist zunächst | |
der Mörder verantwortlich; er hat seine Entscheidung getroffen. Aber | |
niemand glaube, es würde je ein Ende solcher Attentate geben, solange wir | |
ihnen einen Echoraum verschaffen, über dem in großen Lettern steht: | |
Westliche Politiker werden nicht zur Verantwortung gezogen, wenn sie andere | |
Völker ins Unglück stürzen. | |
2 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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