# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Sommer, Aufklärung später | |
> Ein Denkmal in Kassel, ein Einkaufszentrum in München. Und viele offene | |
> Fragen, die man nicht so einfach wegtrinken kann. | |
Bild: McDonald's-Filiale am OEZ in München | |
Dieser Sommer brachte mich an zwei neue deutsche Erinnerungsorte: zum | |
Münchner Olympiaeinkaufszentrum OEZ, wo gegenüber vom Eingang noch die | |
Blumen und verwischten „Warum“-Fragen zwischen „Saturn“ und einem klein… | |
Schnellimbiss stehen (der McDonald’s ist weiterhin geschlossen); und zum | |
Kassler Halit-Platz, zwischen Holländischer Straße und Friedhof, wo coole | |
Jungs vor einer Bar sitzend die letzten Sommernächte genießen und | |
aufpassen, dass nicht noch mal kleine Nazis die schlichte Gedenkstele | |
[1][schänden]. | |
Schräg gegenüber, in der Holländischen Straße 82, befand sich das | |
Internetcafé, in dem Halit Yozgat am 6. April 2006 erschossen wurde. | |
Zu den wenigen Fakten, die über diesen Mord zehn Jahre danach bekannt sind, | |
gehört es, dass sich der Verfassungsschützer Andreas Temme eben dort zur | |
Tatzeit aufhielt – oder kurz zuvor, wie es in praktisch jedem Artikel mit | |
maximalem Feingefühl für rechtsstaatliche Korrektheit vermerkt ist. | |
Inzwischen hat das mit der Anklage gegen Beate Zschäpe befasste Gericht in | |
München Temmes Aussage Glaubwürdigkeit attestiert, er sei zufällig zum | |
Flirt-Chat vor Ort gewesen und habe vom Geschehen nichts mitbekommen (seine | |
Frau war damals schwanger und beklagte sich später, dass Temme seiner | |
Beschäftigung ausgerechnet bei einem „[2][Dreckstürken]“ nachgegangen sei… | |
## Nichtstun? Oder Nichtssagen? | |
Temme arbeitet heute im Kassler Regierungspräsidium. Bei seiner | |
unterdurchschnittlich entwickelten Wahrnehmungsfähigkeit darf man hoffen, | |
dass ihm kein Vorgang anvertraut wird, der für die Bürger auch nur von | |
minimaler Wichtigkeit ist (aber wofür wird er dann bezahlt: Fürs Nichtstun? | |
Oder fürs Nichtssagen?). | |
Am OEZ, das drinnen nicht halb so trostlos ist wie die Bauten um es herum, | |
steht noch kein Denkmal. | |
Am besten wäre vielleicht eine Installation, von der man Antworten bekommt | |
– selbstverständlich anonymisiert – über das Weiterleben: das der | |
Mitschüler, die den Amokläufer gemobbt und bestohlen haben; das der | |
Polizisten, die wegen der entsprechenden Anzeige des Vaters ermittelt und | |
die Sache eingestellt haben; das der Lehrer, die an ihm den „staatlichen | |
Erziehungsauftrag“ zu vollziehen hatten; das der Ärzte, die ihn behandelt | |
haben; das der Menschen, die in Panik andere Menschen aus dem Weg gestoßen | |
haben oder Verletzten nicht zu Hilfe gekommen sind; und das der Eltern | |
natürlich. | |
Schlichte Bericht eben über das Weiterleben aller, die nichts mitbekommen | |
oder nichts unternommen haben, was sie heute gewiss sehr gern mitbekommen | |
und unternommen hätten. | |
Oder eben nicht, wer weiß das schon? Und wer will es wissen? Sommerliche | |
Behäbigkeit lag über den neuen deutschen Erinnerungsorten. Und das Leben | |
geht ja tatsächlich weiter, mit Schuhkauf und Budweiser und anderen | |
leckeren Sachen. | |
Aber der Gedanke, dass ein Denkmal, ob nun schon errichtet oder nicht, eben | |
kein Schlussstein sein darf, sondern ein Meilenstein sein muss, auf der | |
Straße, die zur Wahrheit und zur Wahrhaftigkeit führt – der lässt sich | |
nicht völlig wegkonsumieren. | |
15 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hna.de/kassel/unbekannte-schaenden-nsu-gedenkstein-halitplatz-34… | |
[2] http://www.tagesspiegel.de/politik/nsu-prozess-der-214-tag-du-hast-unsere-z… | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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