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# taz.de -- Demokratie lernen: Schüler herrschen mit
> Jugendliche können Politik verändern. Das hat Hans-Wolfram Stein mit
> Schulprojekten in Bremen bewiesen. Jetzt liegt seine Anleitung dafür als
> Buch vor
Bild: Wählen U 18 ist anderswo noch ein Ziel, in Bremen dank Stein's SchülerI…
BREMEN taz | Oben, im fünften Stock beim Kaffee in der Wohnküche in
Bremen, erklärt Hans-Wolfram Stein, was er als Lehrer gelernt hat.
Nämlich: Dass es „Schülerinnen und Schülern möglich ist, über
Projekte Politik zu beeinflussen“, das sagt er so. Und mit
„Politik“ sind hier wirklich die Abläufe der Verwaltung und die
Gesetzgebung gemeint. Das, wie sich Demokratie als Herrschaftsform
organisiert. Das Staatswesen.
„Es ist möglich, etwas zu verändern durch Schulprojekte“ – das ist
Steins Bekenntnis. Aber es beruht nicht auf bloßer Annahme, sondern
auf Erfahrung: Hans-Wolfram Stein war lange Jahre
Netzwerkkoordinator im bundesweiten Modellprogramm
„Demokratie lernen und leben“. Zugleich ist er Lehrer für Politik
und Wirtschaft. Ein guter, vermutlich. Mindestens einer von denen, die
diesen merkwürdigen Beruf mit Leib und Seele ausüben, auch Jahre nach
der Pensionierung noch, in AGs und ehrenamtlichen Kursen. Ein Lehrer,
der sich für seine SchülerInnen begeistert. Und der seine Fächer
liebt.
## SchülerInnen-Projekt „Ibrahim soll bleiben“
Steins Fächer sind Wirtschaft und Politik. Bloß hat er nie viel
anfangen können mit einer Demokratiedidaktik, die vor allem auf
Planspiele setzt, bei denen klar ist, was am Ende rauskommt. Ihm ging es
um echtes Handeln und das wahre Leben, weil, sagt er, „Demokratie kann
man nicht als Trockenschwimmen lernen“. Und deshalb trägt das Buch,
das er jetzt vorgelegt hat, zwar den spröden Titel „Demokratisch
handeln im Politikunterricht“ und erfüllt alle Ansprüche an ein
[1][fachdidaktisches Werk] – ist aber zugleich auch eine con brio
verfasste Bekenntnisschrift. Stein referiert darin exemplarisch
die Genese und Durchführung von Schulprojekten, gegliedert in fünf
thematische Blöcke. Er diskutiert den eigenen Ansatz im Lichte
der politikpädagogischen Debatte und zeigt Möglichkeiten auf,
wie sich eine vom Schulunterricht ausgehende Intervention in die
Herrschaftsform Demokratie im Einklang mit dem Beutelsbacher
Konsens konzipieren lässt. Der ist so etwas wie die Sonderethik
der PolitikpädagogInnen – Überwältigungsverbot,
Kontroversitätsgebot und Befähigung zur Analyse, das muss
Politikunterricht garantieren.
Mit der Analysefähigkeit gibt’s selten Probleme. Aber ob eine
Klasse ein gemeinsames Anliegen vertreten kann, ohne dass der
Unterricht dafür das Gebot zur Kontroverse verletzt, wird oft
bezweifelt. Aus Steins Sicht ist das ein Denkfehler. Denn gerade der
Schritt in den öffentlichen Diskurs bedeutet ja, sich mit
gegenläufigen Ansichten auseinandersetzen zu müssen. „Überall,
ständig und von allen Seiten prasselten die Gegenargumente auf die
Schülerinnen und Schüler ein“, schildert er anhand des Projekts
„Ibrahim soll bleiben“ von 1997.
Mit dem hatte sich eine Schulklasse für einen unbegleiteten
14-jährigen Flüchtling eingesetzt. Dem drohte – was damals an der
Tagesordnung war – die Abschiebung: „Hätten sich die Jugendlichen
nicht mit anderen Positionen auseinandergesetzt“, so Stein, „wäre
ihr Engagement zusammengebrochen.“
Manchmal, im Gespräch, hält Stein den Kopf etwas schief, um genauer
zuhören zu können. Aber bei manchen Sätzen blitzt er dich ganz straight
direkt durch die Brille an, um zu unterstreichen: „Du kannst etwas
verändern“, das ist seine Botschaft, die Summe der Erfahrungen, ein
Mantra: „Die große Mehrheit auch der demokratischen Lehrer wird
sagen: ,Ach, schöne Träume!' “, sagt Stein. „Das habe ich ja selber so
gedacht, lange“, der Zynismus des Abgeklärten, déformation
professionelle. Aber das hat er überwunden. „Meine Erfahrung ist:
Unter der Voraussetzung einer sauberen Recherche, bei klar
definierten Zielen und mit einem eigenständigen neuen
Diskursbeitrag – kannst du etwas erreichen.“ Und das Buch „soll eine
Ermutigung sein, für Lehrerinnen und Lehrer und mehr noch für junge
Menschen, sich einzubringen und zu engagieren“, sagt Stein. „Weil
man damit etwas bewirken kann“.
Dieser Ansatz, mit Schulprojekten in die Gesellschaft
hineinzuwirken, hat dazu geführt, dass Hans-Wolfram Stein im Laufe von
20 Jahren eine wichtige Person im politischen Mikrokosmos des
Stadtstaats Bremen geworden ist. Nicht, weil er selbst mitgemischt
hätte, das wäre falsch, und es zu schreiben, wäre bloß Wasser auf die
Mühlen seiner KritikerInnen. Sondern: Stein hat dafür gesorgt, dass
seine SchülerInnen mitgemischt haben. Das ist der Unterschied. Sie
haben mitdiskutiert. Sie haben ihre Themen auf die Agenda gesetzt.
Stein hat die Kontinuität hergestellt. Hat dafür gesorgt, dass
einmal angestoßene Initiativen von späteren Jahrgängen wieder
aufgegriffen wurden, neu, mit je unterschiedlicher Tönung, aber
doch hartnäckig. Und hat, das ist ja doch die Aufgabe eines
Politiklehrers, ihnen beigebracht, wie sie ihre Argumente
sachlich unterfüttern und dann präsentieren.
Bei Diskussionsveranstaltungen etwa: Manchmal hat er dann auch
vorne Platz nehmen müssen, zwischen Landtagsgrößen und seinen
Schülern, weil die das so wollten. In diesen Momenten rutscht Stein dann
nervös auf dem Stuhl hin und her. Farbe und Glanz der Glatze lassen
darauf schließen, dass er aufgeregt ist: Wie wird die Sache ankommen?
Wie bringen sie das rüber, seine Sisse, sein Samar und sein Nilay? Denn
die Schule, das Klassenzimmer ist ja das eine. Aber in der
Öffentlichkeit, der echten Welt?
## SchülerInnen überzeugen Bremer Innensenator
Tatsächlich haben Steins SchülerInnen das Land verändert. Zum
Beispiel haben sie den Bremer Innensenator davon überzeugt, die
Kriterien zur Einbürgerung mit Doppelpass auszuweiten. Sogar
bundesweit für Aufsehen gesorgt hat die Absenkung des Wahlalters.
Seit 2011 liegt das in Bremen für Landtagswahlen bei 16 Jahren. Die
Impulse für den Beschluss der Bürgerschaft hatten Steins
SchülerInnen gesetzt. Ganz am Anfang aber war die Sache mit den
Klassenfahrten.
„Das war den SchülerInnen ein echtes Anliegen“, erzählt Stein. „Bei
denen fielen immer die Fahrten aus, weil sich die Hälfte der Klasse das
nicht leisten konnte.“ In Bremen ist Kinderarmut epidemisch. Und
die Klassen von Stein stammten meist nicht aus den Gunstregionen der
Stadt. Als seine SchülerInnen damals beschlossen hatten, sich mit
einem Brief an den Senator zu wenden, hatte er sich nicht viel erhofft.
„Aber der hat uns zu sich eingeladen und die Sache in Ruhe angehört.“
Und dann wurde das geregelt, „das war ja auf Verwaltungsebene kein so
großer Akt“, sagt Stein.
Soziale Projekte gab es einige. Aus Steins Buch sind sie
rausgeflogen. Stattdessen steigt Stein in die Debatte ein. Denn, für Laien
erstaunlich: Ob der Unterricht SchülerInnen befähigen sollte,
sich einzumischen, ist unter den Lehrerausbildern durchaus
umstritten. Manchen scheint die Vorstellung sogar verhasst.
So bekämpft die Mainzer Politikdidaktikprofessorin Kerstin Pohl
den Ansatz in ihrem Aufsatz „Demokratiepädagogik oder politische
Bildung. Ein Streit zwischen zwei Wissenschaftsdisziplinen?“: Mit
rhetorischen Fragen [2][insinuiert] sie in Bezug auf einige
prämierte Stein-Projekte das Schreckbild einer durch ihren Lehrer
indoktrinierten Kinderschar. Dafür auf die 1.000 Druckseiten
starken Dokumentationen der Projekte zurückzugreifen hält sie
offenkundig für unnötig. Ehrenrührig findet Stein solche Angriffe:
„Wenn jemand so schwere Vorwürfe erhebt, erwarte ich schon auch
Belege.“ Vor allem aber empört ihn die „starke Geringschätzung der
Jugendlichen“, die aus solchen Attacken spricht.
Die sehen das ähnlich. Alina Keller zum Beispiel. Vor neun Jahren war
sie im Unterricht bei Stein. Spaltung der Stadt hieß der Projekttitel
damals. Sie recherchierte dafür zum Scoring der Banken – wie allein
die Anschrift und der Klang des Nachnamens von erfundenen Kunden die
Zinssätze der Angebote für Privatkredite verändern.
## Bankenkritikerin studiert Wirtschaftspsychologie
Keller hat seither Wirtschaftspsychologie studiert. Sie wohnt nicht
mehr in Bremen. Sie arbeitet – in einer Bank. „Diese Projektarbeit
hat einen schon sehr geprägt“, erzählt sie. Aber Lenkung, Vorgaben –
nein, eher im Gegenteil. Ihre Idee war es ja gewesen, die Banken ins
Visier zu nehmen. „Stein hat dann gesagt: Das könnte ein Aspekt sein,
schau mal nach, ob du da etwas findest“, so Keller. Tipps gab’s von ihm,
statistisches Material habe er besorgt, aber bearbeiten musste
sie das schon selbst.
„Das war einfach etwas anderes als diese Frontalbespielung“, sagt
Keller, „im Grunde wie dann später auch im Studium.“ Und toll, es
hatte mit dem eigenen Leben zu tun, der Wirklichkeit. Und – eben – der
echten Politik.
18 Aug 2016
## LINKS
[1] http://www.wochenschau-verlag.de/demokratisch-handeln-im-politikunterricht.…
[2] http://www.topologik.net/POHL_Topologik_6.pdf
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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