# taz.de -- Doku-Film mit Marx und Lenin: Zurück in die Zukunft | |
> Mit 20 Jahren ging Kirsi Marie Liimatainen an die Jugendhochschule | |
> „Wilhelm Pieck“, um Marxismus-Leninismus zu studieren. Inzwischen ist die | |
> Finnin Regisseurin und Dokumentarfilmerin | |
Bild: Kirsi Marie Liimatainen hat Marxismus-Leninismus noch in der DDR gelernt | |
HAMBURG taz | „Also, der Film …“, sagte der junge, lockenköpfige Mann, | |
Anfang, vielleicht auch Mitte 20, der am Abend der Weltpremiere an der | |
Kinokasse saß: „Der Film erzählt von jungen Leuten, die damals in die DDR | |
gingen und daraus entstand irgendwie eine linke Bewegung; soll gut sein.“ | |
Nun ja – so ganz gibt das den Inhalt des Filmes „Comrade, where are you | |
today?“ nicht wieder. Ist aber auch nicht ganz verkehrt, erzählt vielleicht | |
mehr vom Schutt, unter dem das Land DDR heute zum Teil vergraben liegt, und | |
wie fremd dem jungen Menschen dessen real-pathetische Ideenwelt eines | |
geregelten Sozialismus heute ist. | |
Tatsächlich folgt der fast zweistündige Dokumentarfilm von Kirsi Marie | |
Liimatainen sehr handfest den Spuren der einstigen Studenten der | |
Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“, die während des Bestehens der DDR aus | |
fast allen Ländern dieser Erde in den Ort Bogensee der Gemeinde Wandlitz | |
bei Berlin kamen, um dort ein knappes Jahr in Theorie und Praxis des damals | |
weltweit gültigen Marxismus-Leninismus geschult zu werden. | |
Dass Liimatainen sich für diesen Stoff interessierte, dass sie ihm viele | |
Wochen und Monate und am Ende einige Jahre ihres Lebens widmete, hat | |
zunächst seinen guten wie naheliegenden Grund: Sie entstammt einer | |
kommunistisch-orientierten Arbeiterfamilie in Tampere und war selbst | |
Studentin an der „Wilhelm Pieck“. | |
Vom September 1988 bis Mitte Juli des schicksalsträchtigen Jahres 1989 | |
befand sie sich in der Gesellschaft von Kämpfern des ANC und Mitgliedern | |
der damals verbotenen kommunistischen Parteien Lateinamerikas. Damit | |
gehörte sie zum letzten Jahrgang der Schule, die dem Zentralrat der FDJ | |
direkt unterstellt war. | |
Liimatainen wurde Schauspielerin, später Filmemacherin, nach einem Studium | |
an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Und dabei | |
beschäftigte sie parallel immer wieder die Frage: Was ist wohl aus den | |
einstigen Mitstudenten und -studentinnen geworden, die seinerzeit auf | |
teilweise abenteuerlichen und auch streng geheimen Wegen nach Brandenburg | |
fanden, während sie selbst von Helsinki aus schlicht das Flugzeug nehmen | |
konnte? Wie bewerten ihre damaligen Genossen ihre teilweise bedingungslose | |
Hingabe für den Sozialismus à la DDR rückblickend? Und vor allem: Was | |
machen sie heute? | |
Sie recherchierte fast zehn Jahre lang immer wieder nach dem Verbleib | |
derer, mit denen sie einst Zimmer, Klassenraum und Speisesaal teilte und | |
von denen damals nur ihr sogenannter Kampfname bekannt war. Denn nach | |
erfolgtem Studium ging es jeweils zurück in die Heimatländer, um für den | |
weltumspannenden Sieg des Kommunismus durchaus real zu kämpfen und | |
gelegentlich auch sein Leben zu lassen. Sie stieg in Archive, wühlte sich | |
durch Aktenberge, baute über Jahre zu ehemaligen Politfunktionären und | |
Kadern das nötige Vertrauen auf, um sich am Ende mit je einem kleinen | |
Filmteam auf Reisen nach Bolivien und Chile, in den Libanon und nach | |
Südafrika aufmachen zu können. | |
Das Resultat ist eine dicht gewebte Zeitreise: Wir lernen eine einstige | |
bolivianische Kommunistin kennen, für die heute ihre indigene Herkunft | |
entschieden wichtiger ist als ihre soziale Verortung und die sich zur | |
Heilerin hat ausbilden lassen. | |
Wir schlendern mit einem einstigen Kommunisten durch Santiago de Chile, der | |
mit galantem Spott auf seine seinerzeitigen Gewissheiten blickt und sich | |
sehr über seine Altersfalten grämt. Oder da ist das Grab des einst ihr so | |
vertrauten Mitstreiters aus Südafrika, an dem seine Witwe harte, klare | |
Worte für die heute so korrupten Politiker des ANC findet. | |
Dazwischen streut sie jede Menge historisches Bildmaterial, wie auch Platz | |
bleibt für viele belebende Zwischenmomente: Wir erleben rührende | |
Wiedersehensszenen und nachdenkliche Erinnerungsversuche. Wir schauen | |
verblichene Fotos und Filmschnipsel an oder lauschen einem kurzen Interview | |
mit dem bolivianischen Präsidenten und auch Hoffnungsträger Evo Morales. | |
Mit angenehm sanfter Stimme erklärt er, dass die USA nie schlafen würden, | |
das manche NGO im Dienste des Kapitals unterwegs und der Umweltschutz oft | |
nur eine neue Form des Kolonialismus sei. „Als ich ihn reden hörte, dachte | |
ich: ‚Wow, das ist genau die alte Rhetorik, die wir in den 70er- und | |
80er-Jahren so oft gehört haben! Das muss ich unbedingt drinnen lassen!‘“, | |
erzählt die Regisseurin. | |
Spannend ist auch ihr Ausflug in den Libanon, wo ihr ehemaligen Mitstreiter | |
ihr Land zeigen und ohne große Worte daran erinnern, dass es historisch | |
gesehen vor gar nicht langer Zeit die weitverbreitete Vision einer | |
säkularen arabischen Region gab, in der der Kommunismus eine tragende Rolle | |
spielen würde. | |
Generell rückt immer wieder das Faktum des Religiösen in den Fokus ihrer | |
Betrachtungen: „Interessant war, das in allen Ländern meine | |
Interviewpartner vom Paradies sprachen, dass sie sich einst erhofften“, | |
sagt Liimatainen. | |
So wie auch ihre kommunistische Großmutter diesem Sujet nicht abgeneigt | |
war: „Sie hat etwas vereinfacht immer gesagt: Unsere Familie geht nicht in | |
die Kirche, sie glaubt an ein besseres Leben, wie es das in der Sowjetunion | |
und in der DDR gibt, denn an irgendetwas müsse der Mensch glauben.“ Erst | |
recht wenn er aus bedrückenden Verhältnissen komme und ein sozialer | |
Aufstieg nicht greifbar scheint. | |
„Ich habe niemanden getroffen, der mir gesagt hat, mich interessiert die | |
Welt von heute nicht“, zieht sie am Ende Bilanz. Und dass trotz aller nach | |
wie vor vorhandenen Empörung über das Unrecht in dieser Welt niemand mehr | |
an die Kraft und die Herrlichkeit einer einzigen Partei glaube. Und das ist | |
doch mal was. | |
Und die Jugendhochschule heute? Das Gebäude selbst steht symbolträchtig | |
unter Denkmalschutz. Ein rühriger Freundeskreis kümmert sich dank | |
jährlicher Sommerfeste darum, dass die Verbindungen zwischen den Genossen | |
von einst, wie sie Jahr für Jahr älter, gelegentlich auch klüger und | |
manchmal auch enttäuschter werden, nicht abreißen, sondern sich im | |
Gegenteil stabilisieren. | |
So wie man der Regisseurin dann doch bei der Recherche half, während man | |
anfangs intern davon heftig abriet, sie bei ihrem Filmprojekt mit | |
Auskünften und Informationen zu unterstützen. Wer wüsste denn, für welche | |
Seite sie arbeiten würde? Garantiert für die falsche! | |
Und Kirsi Marie Liimatainen erzählt zum Abschluss: „Als nun der Film | |
endlich fertig wurde, waren einige aus dem Freundeskreis besorgt und | |
sagten: ‚Na, dann kommst du wohl nicht mehr zu uns …‘ Aber ich konnte ihn… | |
sagen: ‚Natürlich komme ich nächsten Sommer wieder. Ich war doch selbst | |
Studentin, ich war doch eine von euch.‘“ | |
18 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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