# taz.de -- Retrophänomen Musikkultur: Faster, harder, 90er | |
> Arte feiert den ganzen Sommer die 90er Jahre. Mit Friede, Freude, Techno. | |
> Aber auch mit Seitenscheitel, Depression, Heroin und „Come as you are“. | |
Bild: So wild und bunt waren die 90er zu ihren besten Zeiten. | |
Wenn auf Betriebsfeiern, Hochzeiten und Klassentreffen die Tanzflächen voll | |
sind und die Gäste auch, dann kommen sie besonders gut: Eurodance-Hits. | |
„Mister Vain“, „It’s my life“, „Rhythm is a dancer“ – und die P… | |
Warum? Weil es simpler kaum geht: 16 Takte Männer-Rap, 16 Takte | |
Frauengesang, dumpfer Beat, Synthesizer. | |
Eurodance sind die Hymnen derer, die zu cool waren für die Spice Girls und | |
zu schüchtern für den richtigen Techno. „Unglaublich guter Sound“, nennt … | |
Bobo das in der Doku „Pump up the jam – Heroes of Eurodance“ (Sonntag, | |
22.05 Uhr). Über unglaublich gut lässt sich streiten, über unglaublich | |
erfolgreich allerdings nicht. | |
Wie erfolgreich, das kann man erahnen, wenn Scooter-Frontmann H. P. | |
Baxxter, in einem schweren Eichensessel sitzend, erzählt, wie seine Band zu | |
Beginn der Karriere belächelt wurde. Heute füllt er immer noch Stadien und | |
die Menge flippt aus, wenn er „Hyper, Hyper“ in ein Megaphon brüllt. | |
Oder wenn DJ Bobo in seiner Kostümkammer steht, ein goldenes Kostüm zeigt | |
und sagt: „Das war die Tour 2012.“ Der Zirkusanzug daneben ist von 2014, | |
„die erfolgreichste Tour aller Zeiten“. Die ganzen großen Helden haben aber | |
auch alle einen ganz schön großen Knall: DJ Bobo meint, die Kritiker hätten | |
ihn deshalb nicht gewürdigt, weil sie seine Musik nicht verstanden haben. | |
## Alle anderen sind Schrott | |
Dr. Alban sagt, außer ihm und Snap wären alle anderen Bands Schrott | |
gewesen. Snap sieht sich als „Hüterin der Erinnerung“ und tingelt deswegen | |
noch mit ihren Uralt-Hits über die Bühnen. Jeder lebt eben in seiner | |
eigenen Wahrheit. | |
Die Helden, die den Techno nach Berlin gebracht haben, sind wesentlich | |
geerdeter („Party auf dem Mauerstreifen – Soundtrack der Wende“, Sonntag, | |
23 Uhr). Die Mauer fiel und Berlin stand leer – so beschreiben es die DJs, | |
Clubbesitzer und Feierwütigen in der Doku. | |
Jedes Wochenende erschlossen sie sich neue Partyräume: heute das | |
Umspannwerk, morgen ein Bunker in Brandenburg, übermorgen ein | |
unterirdischer Tresor. Plötzlich standen die Ostberliner vor der Tür. | |
Sollte man sie reinlassen? Klar! Auf Technopartys kam „die Einheit zehn | |
Jahre früher als im Rest der Gesellschaft“, meint einer in den Dokus. | |
Dabei wollte dieses Konglomerat aus Chemie, guter Laune und Neon viel mehr | |
als unterhalten. Die erste Loveparade zog durch Berlin, noch ganz klein, | |
aber mit einer Botschaft: „Wir wollen keine Fesseln mehr.“ Techno als | |
Gesellschaftsentwurf. Lange hielt der Hype nicht. Investoren entdeckten | |
Berlin und erschlossen die Freiräume. Endgültig vorbei war es für die | |
meisten Technoiden, als die CDU einen Wagen auf der Loveparade buchen | |
wollte. | |
## Von „Wonderwall“ bis „Wannabe“ | |
Utopie gescheitert, heute ist Techno ein Massenphänomen. Allwochenendlich | |
steigen Hunderte Spanier, Engländer und Franzosen in die Billigflieger nach | |
Berlin, um hier Nächte durchzufeiern. Mit den Partys der frühen 90er hat | |
das nichts mehr zu tun, ohne sie wäre es aber auch nicht möglich. | |
Mit sieben Dokumentationen beleuchtet Arte am Wochenende Mode, Musik und | |
Gesellschaft in der Dance- und Technoszene. Dazu läuft „Goodbye, Lenin!“ | |
(Sonntag, 20.15 Uhr) und ein Konzertmitschnitt von Sammy Deluxe (Samstag, | |
23.40 Uhr). | |
Und was gab’s noch so in den 90ern? Seitenscheitel, Trainingsjacken, | |
„Wonderwall“. Depression, Heroin, „Come as you are“. Kaugummis, Sporty | |
Spice, „Wannabe“. Sie alle kriegen einen Schwerpunkt: Boy- und Girlgroups | |
am 2./3. August, Alternative und Grunge am 9./10., Style am 16./17., Brit | |
Pop am 23./24. August. | |
25 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
## TAGS | |
90er Jahre | |
Scooter | |
Techno | |
Pop-Kultur | |
Karl Marx | |
Loveparade | |
Mütter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung zu Kunst und Musik: Mit Baxxter ins Berghain | |
Kunst und Musik und was sie miteinander zu tun haben: Die Ausstellung | |
„Hyper!“ vermeidet erfreulich viele Klischees. | |
Doku-Film mit Marx und Lenin: Zurück in die Zukunft | |
Mit 20 Jahren ging Kirsi Marie Liimatainen an die Jugendhochschule „Wilhelm | |
Pieck“, um Marxismus-Leninismus zu studieren. Inzwischen ist die Finnin | |
Regisseurin und Dokumentarfilmerin | |
Berliner Partydemo „Zug der Liebe“: Abhotten mit Gandalf | |
Im aufziehenden Sturm tanzten Weißbärtige, Punks und Stoffbeutelträger in | |
Berlin für mehr Nächstenliebe – und gegen die Gema. | |
Neues Album von Sufjan Stevens: Kreuz ohne Schatten | |
Der Singer-Songwriter Sufjan Stevens versucht auf seinem Album „Carrie & | |
Lowell“ den Tod seiner Mutter zu verstehen. Er hat sie kaum gekannt. | |
Scooter rechts abgedrängt: Baxxters falsche Nazi-Freunde | |
Ein Foto des Scooter-Frontmanns mit rechten Musikern sorgt im Internet für | |
Wirbel. Baxxter wusste nicht, mit wem er sich ablichten ließ, sagt die | |
Plattenfirma. | |
DJ Bobo auf Tournee: Einer aus der Mitte | |
Ein Altruist, der seine Bestimmung darin sieht, einer Zusammenrottung von | |
7.000 uncoolen Zeitgenossen Freude zu bereiten: DJ Bobo ist als | |
vegetarischer Vampir auf Konzerttournee. |