# taz.de -- CSD in Berlin: Wir müssen reden! | |
> Die LGBT*-Bewegung befindet sich in einem Zustand der Zerfaserung und | |
> Ohnmacht – obwohl wieder Tausende auf die Straße gehen werden. | |
Bild: Raus auf die Straße: Teilnehmer*innen am CSD in Berlin 2015 | |
Drei Worte nur: Wir – sind – allein! Kürzer lässt sich das Lebensgefühl … | |
Lesben und Schwulen, von Transgender und Bisexuellen in Berlin seit dem | |
Anschlag von Orlando nicht beschreiben. Wir sind nicht sicher, nicht einmal | |
in unseren Clubs, die noch immer unsere Schutzräume sind. Räume, die uns | |
nicht vor Anschlägen schützen sollen, sondern vor einer Gesellschaft, die | |
uns weiterhin zum Schweigen verurteilt, in die Anpassung zwingt, zur | |
Maskerade treibt; die uns noch immer schrill findet, nicht bunt, die | |
Vielfalt nicht wertschätzt – sondern toleriert. | |
Ein kleines Plakat auf einem noch kleineren Spontanmarsch durch Neukölln | |
und Kreuzberg am Montag nach dem Anschlag brachte dieses Gefühl unserer | |
Marginalisierung auf den Punkt: „Unsere Diaspora ist nicht eure Freiheit!“ | |
Will heißen: Hört auf, uns zu vereinnahmen, uns zu missbrauchen für eure | |
Selbstbeweihräucherung! Ihr seid nicht halb so offen, wie ihr tut! | |
Minderheiten haben ein Gespür für die „Brüchigkeit gesellschaftlicher | |
Toleranz“, wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker den Zustand der | |
deutschen Gesellschaft im Verhältnis zu ihren sexuellen Minderheiten | |
beschreibt. LGBT*-Menschen leben selbst in Berlin allenfalls in einem | |
„kündbaren Duldungsverhältnis“. Teile der liberal-konservativen Eliten | |
haben diese Duldung bereits gekündigt. | |
## Kampf um Sexualkunde | |
Sichtbar wird das vor allem im Kampf gegen den Sexualkundeunterricht der | |
Vielfalt. Die von christlichen Fundamentalisten und völkischen | |
Rechtspopulisten initiierte Desinformationskampagne gegen die Bildungspläne | |
knüpft mit ihrer Lüge von der vermeintlichen Frühsexualisierung bewusst an | |
überwunden geglaubte Schauermärchen von der Verführbarkeit zur | |
Homosexualität an. Auch in Berlin drohten unter der Großen Koalition | |
LGBT*-Inhalte, seit 2001 in den Rahmenlehrplänen, im vergangenen Jahr | |
wieder herauszufallen. Nur mit Mühe verhinderten LGBT*-Gruppen damals einen | |
Rollback. | |
Wir sind allein. Die Erkenntnis schmerzt umso mehr, als ihr eine zweite auf | |
dem Fuße folgt: Wir sind fürs Alleinsein nicht gerüstet! Berlin ist ein | |
hervorragendes Beispiel für diesen Mangel, der andernorts nur noch | |
deutlicher zutage tritt. Auf den ersten Blick scheint die Berliner | |
LGBT*-Bewegung vor Vitalität und Vielfalt nur so zu strotzen: Dutzende, | |
ach, Hunderte Gruppen, Vereine und Verbände zu fast jedem erdenklichen | |
Thema, vom offenen Gesprächskreis für Trans*-Eltern bis zum Stammtisch für | |
behaarte Männer mit Übergewicht. | |
Doch auf den zweiten Blick ist die Stärke eher Ausdruck von Schwäche: Gut | |
aufgestellt ist die Berliner LGBT*-Bewegung – wie überall in Deutschland – | |
ausschließlich im Bereich der Selbsthilfe. Für fast alle von der Homo- und | |
Transphobie, vom Rassismus und Sexismus der uns duldenden Gesellschaft | |
geschlagenen Wunden haben LGBT*-Menschen in den vergangenen vierzig Jahren | |
Versorgungsstrukturen geschaffen, meist in Abhängigkeit von staatlicher | |
Finanzierung, die den Verwundeten Trost, Zuspruch, Hilfe zukommen lassen. | |
Das ist immens wichtig und nicht hoch genug einzuschätzen. Aber es täuscht | |
immer weniger darüber hinweg, dass der „Community“ heute Entscheidendes | |
fehlt, was eine politische Bewegung konstituiert: | |
1. Die Fähigkeit, wenigstens untereinander eine gemeinsame Sprache zu | |
sprechen, was uns spätestens im Streit um Queer-Theorie versus | |
Identitätspolitik verloren ging. | |
2. Der Wille, politisch als Bewegung selbst zu agieren und zu gestalten und | |
das nicht an Parteien zu delegieren, was mit dem Niedergang der autonomen | |
Schwulenbewegung seit den Neunzigern so gründlich geschehen ist, dass wir | |
heute weder über politische GrassRoots-Organisationen verfügen, noch über | |
eine Führungsfigur, die nicht parteipolitisch gebunden ist. | |
3. Den nötigen Druck wieder aufzubauen, ohne den Politik – auch freundlich | |
gesinnte – sich nicht bewegt, indem die LGBT*-Bewegung durch professionelle | |
Kampagnenarbeit wieder mobilisierungsfähig wird. Und schlussendlich zu | |
erkennen, dass es | |
4. Verbündete braucht, weil es notwendig ist, das eigene Ringen um | |
Emanzipation in den gesellschaftlichen Kontext gruppenbezogener | |
Menschenfeindlichkeit zu stellen, denn wer zu Homo- und Transphobie | |
spricht, kann zu Sexismus und Rassismus – auch in der eigenen Szene – schon | |
aus Einsicht und Empathie nicht schweigen. | |
Über den Mangel tröstet und hilft seit Jahrzehnten ein in seiner | |
Festtagsdichte und Prachtentfaltung fast schon katholisch zu nennender | |
jahreszeitlicher Reigen aus Ritualen hinweg: IDAHOT, Kreuzberger CSD, | |
Stadtfest, Pride Week und „großer“ CSD, Welt-Aids-Tag. Das Organisieren | |
all dieser LGBT*-Hochämter frisst Jahr für Jahr einen nicht zu | |
unterschätzenden Teil der gesamten Energie der verbliebenen Szene. | |
## Die eigene Ohnmacht | |
Der Kampf um die wenigen Aktivist*innen für die vielen Standdienste und | |
Ordnerschichten entbrennt schon Monate im Voraus. Dabei bleiben diese | |
Veranstaltungen vor allem eine Bewegung um sich selbst herum, schiere | |
Rückversicherung der eigenen Existenz. Und wer sich nicht einigen kann, | |
feiert halt getrennt. Berlin ist schließlich groß genug. | |
Doch die Rituale der Selbstermächtigung enden zunehmend in der | |
Selbstverpuffung. Die Suche nach einem alljährlichen CSD-Motto beschreibt | |
nicht länger das Ringen um und den Kampf für politische Inhalte, sie | |
ersetzt es: „Danke für nix“ lautet das Motto in diesem Jahr. Das soll | |
kämpferisch klingen, offenbart aber vor allem die eigene Ohnmacht. | |
In einem Klima der Indifferenz konnte das noch gut gehen. In der | |
Post-Orlando-Zeit reicht das nicht mehr. Die LGBT*-Bewegung muss Antworten | |
geben: auf den gesellschaftlichen Stillstand, auf das Ausbleiben der | |
Rechtsgleichheit, auf das Erstarken homo- und transphober Stimmungen bis | |
hinein in die gesellschaftliche Mitte, auf das Sich-Ausbreiten | |
rassistischer Ressentiments in den eigenen Lebenswelten. Dem Agenda-Setting | |
der Rechten hat die LGBT*-Bewegung in ihrem jetzigen Zustand der | |
Zerfaserung und Selbstbeschäftigung nichts entgegenzusetzen. | |
Wer in die Geschichte dieser Bewegung schaut, muss lange zurückgehen, um | |
Parallelen zu finden, doch es gibt sie. Ende der siebziger Jahre befand | |
sich die damalige Schwulenbewegung in einer ähnlichen Malaise. Zerrissen | |
von inneren Streitigkeiten und angesichts des drohenden Zerfalls fanden | |
sich Gruppen und Initiativen zum „Treffen der Berliner Schwulengruppen“, | |
dem TBS, zusammen. Aus der Vernetzung entstand ein | |
Professionalisierungsschub, das heute queere Monatsmagazin Siegessäule ist | |
ebenso ein Ergebnis des TBS, wie die Beratungsstelle Mann-O-Meter. | |
## Über die Gräben hinweg | |
Es wird höchste Zeit für die LGBT*-Bewegung heute, sich über die Gräben | |
von queertheoretischen und identitätspolitischen Weltanschauungen hinweg | |
im Hinblick auf politische Handlungsfähigkeit neu zu vernetzen, weniger | |
übereinander und mehr miteinander zu reden. Es wird Zeit, den Blick in | |
andere Städte und Länder zu richten, in denen es besser gelungen ist, | |
LGBT*-Themen ins Zentrum politischer Debatten zu tragen, anstatt sie auf | |
den Gedönslisten der Parteien unter dem Punkt Verschiedenes zu Grabe zu | |
tragen. | |
Es wird Zeit, von neuem und mühsam den nötigen Druck der Straße zu | |
organisieren, ohne den auch wohlmeinende Politiker*innen nicht in unserem | |
Sinne handeln werden. Es wird Zeit, sich dem Rassismus und der Islamophobie | |
auch unter Schwulen und Lesben entgegenzustellen und nicht aus Angst, man | |
verlöre Mitstreiter, zu schweigen. | |
Frankreichs LGBT*-Gruppen etwa haben zu lange geschwiegen, im Ergebnis | |
sympathisieren dort ein Drittel der schwulen Männer gegen ihre eigenen | |
Interessen mit dem Front National. Im Gegensatz dazu sind nach Orlando in | |
den USA muslimische Gruppen, Lati und LGBT*-Gruppen in dem Verständnis | |
aufeinander zugegangen, dass Minderheiten sich nicht gegeneinander | |
ausspielen lassen dürfen. Kurz: Es wird Zeit, die eigenen Kräfte radikal | |
neu zu justieren. Denn wer selbst agiert, muss nicht „Danke“ sagen. Nicht | |
einmal für nix. | |
Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin. | |
Darin außerdem ein Interview und eine Kolumne zum Theme queere Community | |
und CSD. Am Kiosk und in Ihrem Briefkasten. | |
23 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Dirk Ludigs | |
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