# taz.de -- Nachfolger für Cameron gesucht: Selten so verkalkuliert | |
> Der Noch-Premier David Cameron hinterlässt ein gespaltenes Land und eine | |
> gespaltene Partei. Seine Nachfolge ist das größte Problem. | |
Bild: David Cameron überquert die Abbey Road in London. Vor ihm: seine früher… | |
DUBLIN taz | „Briten geben niemals auf“, hatte David Cameron vorigen | |
Dienstag vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street gesagt. | |
[1][Drei Tage später erklärte er an derselben Stelle, dass er aufgeben | |
werde]. Der britische Premierminister hat sich sein Grab selbst | |
geschaufelt. Er hat das Referendum anberaumt, um der rechtspopulistischen | |
United Kingdom Independence Party (Ukip) von Nigel Farage und seinen | |
eigenen europaskeptischen Hinterbänklern den Wind aus den Segeln zu nehmen | |
und dadurch seinen Job als Parteichef und als Premier zu sichern. | |
Er wusste, dass das eine riskante Wette war. Schließlich hatte er zehn | |
Jahre lang die Europäischen Union (EU) bei jeder Gelegenheit gegeißelt. | |
Immer, wenn im Vereinigten Königreich etwas schieflief, gab er der EU die | |
Schuld dafür. | |
Ihm selbst ist die politische Dimension der EU stets fremd gewesen, er sah | |
sie lediglich als Wirtschaftsvereinigung. Nachdem ihm die europäischen | |
Staatschefs auf einem Gipfeltreffen in Brüssel schließlich entgegengekommen | |
waren, musste er plötzlich ein Loblied auf die EU singen, und dafür hatte | |
er nur wenige Monate Zeit. | |
Das musste misslingen, denn Cameron konnte nicht über seinen | |
europaskeptischen Schatten springen. Es fielen ihm einfach keine positiven | |
Argumente für den Verbleib in der Union ein. Stattdessen setzte er auf die | |
Angst vor dem Ungewissen, das hatte ja bereits beim Volksentscheid über | |
Schottlands Unabhängigkeit geklappt. Diesmal verfing das | |
Armageddon-Szenario nicht, zumal er mit seiner drastischen Sparpolitik die | |
Armen noch ärmer gemacht und viele Sozialleistungen eingedampft hatte. So | |
gedieh die Unzufriedenheit der Protestwähler. | |
Hinzu kam eine bestenfalls lauwarme Labour-Kampagne für den Verbleib in der | |
EU. Der linke Labour-Chef hatte das gleiche Problem wie Cameron. Auch er | |
hatte die EU stets heftig als unsozial und neoliberal kritisiert und musste | |
nun, nachdem er Labour-Chef geworden war, um des parteiinternen Friedens | |
willen für die verhasste Organisation werben. Das verfing ebenso wenig. | |
## „Ein besonderer Platz in der Hölle“ | |
In vielen Labour-Hochburgen wie Birmingham und Sheffield lag Brexit vorne. | |
Die Londoner Labour-Aktivistin und Schriftstellerin Linda Grant | |
[2][twitterte am Freitag]: „Und ein besonderer Platz in der Hölle für | |
diesen dummen, stümperhaften, eitlen, inkompetenten Vollidioten Jeremy | |
Corbyn.“ Ob er sich wesentlich länger hält als Cameron, ist deshalb | |
gegenwärtig mehr als zweifelhaft. | |
Camerons Rücktrittsankündigung trifft auch in der eigenen Partei auf | |
Missfallen. 86 Tory-Abgeordnete haben einen Brief unterzeichnet, in dem sie | |
ihn drängen, im Amt zu bleiben und die Bedingungen für den Brexit | |
auszuhandeln. Er lehnte ab: Das möge gefälligst sein Nachfolger aus dem | |
Lager seiner Gegner tun. Brexit ist deren Sieg, und deren Problem. | |
[3][Die EU drängt Großbritannien zum schnellen Austritt] – wegen der | |
„Märkte“, die Unsicherheit nicht mögen und denen offensichtlich nach wie | |
vor alles untergeordnet werden muss. Cameron ist nach seinem angekündigten | |
Abschied eine „lame duck“, eine lahme Ente, die schlicht nichts mehr | |
entscheiden wird. Die Frage lautet: Wer aber wird sein Nachfolger? | |
Der einflussreiche Hinterbänkler-Ausschuss, der 1922 gegründet wurde, | |
trifft sich am Montag, um über Camerons Nachfolge zu beraten. Viel Zeit | |
bleibt nicht. In knapp einem Monat beginnt die Sommerpause, und bis dahin | |
müssen die Kandidaten feststehen. Danach werden die Wahlzettel verschickt. | |
Der knappe Zeitplan kommt Boris Johnson, bis vor Kurzem noch Londons | |
Bürgermeister und das Gesicht der Brexit-Kampagne, entgegen. Mögliche | |
Gegenkandidaten haben nämlich kaum Zeit, sich zu profilieren. Das gilt vor | |
allem für Andrea Leadsome und Priti Patel, die beide ebenfalls führende | |
Rollen in der Brexit-Kampagne spielten. | |
## Taktische Überlegungen | |
Johnsons Entscheidung, die Brexit-Kampagne anzuführen, hat vielleicht | |
entscheidend zum Sieg der Aussteiger beigetragen. Er ist bei der | |
Bevölkerung beliebt – aber weniger wegen seiner politischen Entscheidungen, | |
als vielmehr wegen seiner unterhaltsamen Einlagen. Würde er der nächste | |
Premier, wären die Tories gespalten. | |
Es gibt deshalb bereits eine Tory-Kampagne, „Jeder außer Boris“, mit der | |
Johnson gestoppt werden soll. Viele Briten halten Johnson für einen | |
Opportunisten. Bei seinem öffentlichen Auftritt am Freitag wurde er mehr | |
beschimpft als bejubelt. Viele glauben, dass er nur aus taktischen Gründen | |
für den Austritt aus der EU war, weil er Premier werden will. Schließlich | |
hatte ihn die Times gefeuert, weil er die Leser belogen hatte. Und der | |
damalige Tory-Chef Michael Howard hatte ihn gefeuert, weil er ihn belogen | |
hatte. | |
Cameron favorisiert die Innenministerin Theresa May als Nachfolgerin. Sie | |
hatte sich während der gesamten Wahlkampagne erstaunlich bedeckt gehalten. | |
Zwar sprach sie sich für den Verbleib in der EU aus, aber nur sehr leise. | |
Sie hat viele Anhänger in der Partei, aber auch viele Brexit-Anhänger | |
könnten mit ihr leben. | |
Ob ihr allerdings die Rückendeckung des Noch-Premiers nützt, ist fraglich. | |
Selten hat sich ein britischer Politiker so verkalkuliert wie Cameron. Er | |
wollte die Grabenkämpfe der Tories beim Thema Europa ein für alle Mal | |
überwinden. Stattdessen hinterlässt er eine gespaltene Partei und ein | |
gespaltenes Land. | |
26 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] /!5313175/ | |
[2] https://twitter.com/lindasgrant/status/746256275550380032 | |
[3] /!5316519/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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