| # taz.de -- Debatte Klimawandel: Die Weltrettungsmaschine | |
| > Können Algorithmen vor dem Untergang retten? Gegen den Turbofeudalismus | |
| > aus Silicon Valley brauchen wir einen linken Optimismus der Technik. | |
| Bild: Teil des Weltzerstörungsalgorithmus: Schaufelradbagger in einem Kohletag… | |
| Ein dickes Heft lag zwischen den Seiten der Zeit. Honiggelb und privat | |
| finanziert. Eine Sonderbeilage. Ihr Titel: „Ist es schon zu spät, oder ist | |
| der Homo sapiens noch zu retten?“ Ohne eine radikale Wende im Handeln der | |
| Menschen werde die Zivilisationskrise in 20 Jahren zum Untergang der | |
| Gattung führen, schreibt der Autor, Klaus-Dieter Rauser, ein | |
| Versicherungsberater aus Reutlingen. | |
| Es folgt, auf 48 Seiten, sein Rettungsprogramm: Da die Ursachen für | |
| Klimakrise, ökologische Katastrophen, Übervölkerung und Kollateralschäden | |
| des Kapitalismus auf den Handlungen von Menschen beruhen, müssten diese | |
| objektiv am Maßstab der Belastungsgrenzen unseres Planeten gemessen werden. | |
| So könne die „individuelle persönliche Schuld“ jedes Menschen an der | |
| Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gemessen, auf „Handlungskonten“ | |
| registriert und öffentlich gemacht werden. Ein internetgestütztes, globales | |
| Feedback mit Likes, Dislikes, „medial kommuniziertem Lob und Tadel“ würde | |
| die Eliten so sanft zwingen, ihre Taten am Fortleben der Gattung zu | |
| orientieren. | |
| Der Kampf konfligierender Interessen wäre so durch wissenschaftliche, an | |
| den Überlebensimperativen geeichte Steuerung ersetzt. Nicht nur die | |
| Aktionen der großen Bestimmer, sondern Verhalten und Konsum aller Bürger | |
| müsse kontinuierlich durch die Feedbacks der Mitmenschen bewertet werden; | |
| jeder könne so seine eigene Schuld am Untergang der Menschheit ermessen – | |
| und sein Leben verändern. Bei Nichtbefolgung würden ihm seine Follower | |
| zunächst die Sympathie, dann die Loyalität, schließlich die materiellen | |
| Mittel entziehen. Durch weltumspannende Algorithmen könne die Gattung so in | |
| ein „sich selbst regulierendes System“ überführt werden, das den | |
| schädlichen Besitzindividualismus überwindet. | |
| Das Foto zeigt einen ernsten, freundlichen Herrn mit Krawatte am Beginn | |
| seines achten Lebensjahrzehnts. Ob die Verlagsleitung wusste, was sie ihrem | |
| liberalen Blatt da beigelegt hat? Den Aufruf zu Gründung eines Bundes der | |
| IT-Guerilla, die Politiker und Konzernlenker an den Pranger stellen und den | |
| Kapitalismus in eine ökologische Zuteilungswirtschaft überführen will, in | |
| der – so einige Beispiele – Kinderreichtum besteuert wird, energiefressende | |
| Skilifte durch Dislikes im Netz verboten werden ebenso wie teure | |
| Wissenschaften, die nichts zum Überleben beitragen. | |
| ## Kybernetische Pfeifenträume | |
| Dieses techno-totalitäre Projekt der Weltrettung verschlug mir bei der | |
| ersten Lektüre die Sprache. Aber was treibt einen Beckett lesenden Ehemann | |
| und Vater von drei Kindern in kybernetische Pfeifenträume? Es muss tiefste | |
| Verzweiflung sein, die den Humanisten aus Schwaben Politikern nichts mehr | |
| zutrauen und letztlich nur noch in einem ökologisch programmierten | |
| Autopiloten einen Ausweg sehen lässt: „Idealerweise sollte eine omnipotente | |
| Macht der Menschheit das sich selbst regulierende System als | |
| funktionsfähige Installation übergeben und zugleich für dessen Betrieb | |
| sorgen.“ | |
| Herr Rauser ist ein Selbstdenker; er zieht eine radikaltechnokratische | |
| Konsequenz aus dem Gedankenfundus der Umweltbewegung und der | |
| Kapitalismuskritik: dem ökologischen Imperativ des Hans Jonas, den | |
| Berechnungen des ökologischen Fußabdrucks, der „Methusalemfalle“ und all | |
| den Manifesten, die keine Wende gebracht haben. Aber sein Sprung aus | |
| heideggerscher Verzweiflung – „nur ein Gott kann uns retten“ – in die | |
| Vision eines Weltautomaten hat zumindest stark surreale Züge. | |
| Mein zweiter Gedanke: Diese algorithmische Diktatur – was wäre sie anders | |
| als das umprogrammierte Projekt von Google, Facebook, Amazon oder der „Big | |
| Nudging“-Initiativen, mit denen Regierungen ihre Bürger zu | |
| wachstumskonformem Verhalten manipulieren? Herr Rauser träumt den Traum der | |
| bösen Buben von Silicon Valley, nur andersherum: eine Art universelles, | |
| gemeinnütziges Wikipedia soll das Bewusstsein und Handeln der Individuen | |
| programmieren, zum Besten der Menschheit. | |
| Beim dritten Lesen fiel mir ein, wovon Paul Masons Buch „Postkapitalismus“ | |
| handelt: von der Dringlichkeit, neue politische Praktiken zu entwickeln, | |
| die auf mehr zielen als alle individuellen Versuche, im Falschen richtig zu | |
| leben, als Biokooperativen, Post-Kollaps-Kommunen, De-Growth-Illusionen und | |
| Entschleunigungsromantik. Jede große technologische Revolution führt zu | |
| einer neuen Gesellschaftsformation, deshalb kommt alles darauf an, sie | |
| schon in ihrem Entstehen gegen ihre barbarischen Möglichkeiten im Interesse | |
| der übergroßen Mehrheit der Menschen in Besitz zu nehmen. | |
| ## Optimismus der Technik | |
| Auch wenn die Eliten sich, so erwartet es nicht nur Herr Rauser, gegen ihre | |
| Entmachtung „mit massivem Widerstand und Liquidationsversuchen“ wehren | |
| werden: Gegen den andrängenden Turbofeudalismus aus dem Silicon Valley | |
| brauchen wir einen neuen Optimismus der Technik. Die Linke muss die | |
| wirkungslose Defensive aufgeben und das Projekt weitertreiben, auf das die | |
| Technologie der Neuzeit immanent zielte: den rationellen Stoffwechsel mit | |
| der Natur und die Befreiung von harter Arbeit, von bullshit jobs und | |
| überflüssiger Herrschaft. | |
| Die Furcht vor Algorithmen, die Menschen zum passiven Gleitmittel des | |
| amoklaufenden Kapitalismus machen, lähmt die linke Fantasie. Aber Projekte | |
| kann man nur mit Projekten bekämpfen, möglichst mit begeisternden. Nicht | |
| der globale Autopilot, wohl aber die Befreiung von Internet und Robotern | |
| aus der Profitlogik und die Ausrichtung der Politik an | |
| Überlebensimperativen. Die Entmachtung der Weitermacher kann man – wie | |
| Klaus-Dieter Rauser am realistischen Ende seines Pamphlets vorschlägt – | |
| mit crowdfinanzierten Netzwerken sicherlich anstupsen, aber ohne eine | |
| Instandbesetzung der Demokratie wird nicht Großes gelingen. | |
| Allerdings kommt mir eine wirksame Inkraftsetzung etwa der Artikel 14 und | |
| 20a unserer Verfassung zurzeit ebenso utopisch vor wie die surreale | |
| Weltmaschine, die alles regelt. Aber solange der europäische Frühling | |
| ausbleibt, kommt einer eben schon mal auf merkwürdige Rettungsgedanken. | |
| Vielleicht ist das Ganze ja auch nur eine listige Provokation? | |
| 2 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Algorithmen | |
| Fortschritt | |
| Silicon Valley | |
| Social Bots | |
| Kapitalismuskritik | |
| Ethikkommission | |
| Aufklärung | |
| Selbstfahrendes Auto | |
| Rechter Populismus | |
| Algorithmus | |
| Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
| Akzelerationismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| taz-Bot Judith Botler zum Frauentag: { track: „#genderwahnsinn“ } | |
| Zum Weltfrauentag haben wir einen Bot programmiert. Warum? Weil das | |
| Programmieren eine Form der Selbstermächtigung ist. | |
| Linker Kongress zu digitalem Kapitalismus in Hamburg: „Mut haben, die Zukunft… | |
| Das „Ums Ganze!“-Bündnis diskutiert in Hamburg über Digitalisierung und | |
| Kapitalismus | |
| Automatisierung des Fahrens: Ethik-Kommission eingesetzt | |
| Die Entwicklung des automatisierten Fahrens wird künftig von einer | |
| Ethik-Kommission begleitet. Auch der Austausch von Daten steht auf der | |
| Agenda. | |
| Nudging anstatt Bildung und Aufklärung: Nur ein kleiner Anstoß | |
| Politiker und Umweltschützer wollen wichtige Alltagsentscheidungen durch | |
| Anreize lenken. Kritiker halten dies jedoch für manipulativ. | |
| Kolumne Wir retten die Welt: Rücksichtsvolle Algorithmen | |
| Wieso gruseln sich eigentlich alle vor selbstfahrenden Autos? Die sind | |
| netter und respektvoller zu Radfahrern als manch lenkender Mensch. | |
| Facebook sperrt Antira-Seiten: Der Aufmarsch der Melde-Nazis | |
| Rechte User boykottieren Watchblogs mit Sperr-Attacken und Facebook lässt | |
| sie gewähren. Das Problem: Es fehlt an menschlichem Hirn. | |
| Algorithmen und Kriminalität: Er wird, er wird nicht, er wird … | |
| Ein Soziologe sagt, sein Computerprogramm könne vor der Geburt eines | |
| Menschen herausfinden, ob der straffällig wird. Aber will man das? | |
| Künstliche Intelligenz: Professor Helbing und seine Mission | |
| Dirk Helbing will mit künstlicher Intelligenz die Welt handhabbar machen. | |
| Der Physiker knüpft dazu seit Jahren weltweit ein Netzwerk. | |
| Philosoph über neue Technologien: „Die Linke hat den Anschluss verpasst“ | |
| Armen Avanessian ist Beschleunigungsphilosoph – deshalb redet er schnell. | |
| Etwa darüber, warum ihm die Linke zu gestrig ist und warum er Hirnchips | |
| toll findet. | |
| Sonntaz-Interview mit Eli Pariser: "Konzerne geben vor, was wir sehen" | |
| Bestimmte Informationen werden im Netz weniger verteilt. Der Netzaktivist | |
| Eli Pariser über gefilterte Meinungen und die Strategie von Google und | |
| Facebook. |