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# taz.de -- Türkischer Journalist über Pressefreiheit: „Kein Richter wagt d…
> Erdoğans Lieblingsfeind soll sechs Jahre in Haft: „Cumhuriyet“-Chef Can
> Dündar über sein Verhältnis zum Präsidenten und die Angst seiner
> Kollegen.
Bild: Fühlt sich wegen des Polizeischutzes fast wie Erdogan: Journalist Can D�…
Das Haus der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“ liegt mitten im
Istanbuler Geschäftsviertel auf der europäischen Seite der Stadt. Das
Gebäude ist komplett umzäunt. Hinter dem Zaun warten Polizisten, die
Besucher in Empfang nehmen. Danach eine Kontrollstation, ähnlich wie an
Flughäfen. Erst dann erreicht man den Empfangstisch, neben dem die
hauseigene Security wartet. Ab dem ersten Stock dann erlebt der Besucher
das normale Durcheinander einer Zeitungsredaktion. Die Chefredaktion ist im
fünften Stock.
Can Dündar kommt auf die Minute pünktlich. Vor einer Woche wurde er zu
sechs Jahren Haft verurteilt, weil er Staatsgeheimnisse verraten haben
soll. Kurz vor der Urteilsverkündung entkam Dündar nur knapp einem Attentat
im Gerichtssaal. Auf die Frage, wie es ihm denn nun geht, zeigt er auf ein
Blatt Papier mit den Interviewterminen für den Tag. „Ich komme nicht mehr
zum Arbeiten“, stöhnt er.
taz.am wochenende: Herr Dündar, hegt Präsident Erdoğan einen persönlichen
Groll gegen Sie?
Can Dündar: Nun ja, Diktatoren lieben es nicht, wenn sie kritisiert werden.
Gegen andere Kritiker geht er aber nicht mit dieser unglaublichen Vehemenz
vor und nimmt persönlich Stellung. Da regeln es meist Erdoğans Anwälte.
Ich weiß auch nicht, warum er mich so gar nicht mag. Vielleicht wegen eines
Dokumentarfilms den ich einmal über ihn gemacht habe und in dem es unter
anderem auch um Korruption ging. Da ist er ja besonders sensibel.
Können Sie sich noch einigermaßen frei bewegen?
Die Polizei hat mir nach dem Attentatsversuch, während des Prozesses am
letzten Freitag vier Personenschützer geschickt, die mich nun überall
hinbegleiten. Draußen werde ich gefahren, ein anderes Fahrzeug fährt zur
Sicherheit hinterher. Ich komme mir schon fast vor wie Staatspräsident
Erdoğan, dem ich das alles verdanke.
Rechnen Sie denn mit einem neuerlichen Angriff?
Man kann es nicht ausschließen. Schließlich hat Erdoğan gedroht, ich werde
für die Aufdeckung der illegalen Waffentransporte einen hohen Preis zahlen,
und es gibt sicher etliche Anhänger unseres Präsidenten, die diese Drohung
umsetzen wollen.
Hat Sie das Urteil im Prozess überrascht?
Ich habe damit gerechnet. Eigentlich hätten ich, ebenso wie Erdem Gül . . .
. . . der Hauptstadtkorrespondent der Cumhuriyet, der ebenfalls angeklagt
ist . . .
. . . freigesprochen werden müssen. Aber das traut sich ja kein Richter.
Weshalb?
Erdoğan hat, nachdem das Verfassungsgericht unsere U-Haft für
verfassungswidrig erklärt hatte, öffentlich gesagt, er akzeptiert diesen
Spruch des Verfassungsgerichts nicht. Da ist es schwierig für einen Richter
eines normalen Strafgerichts, diesem Druck zu widerstehen. Immerhin hat das
Gericht den Vorwurf der Spionage fallen gelassen und auch die angebliche
Mitgliedschaft in einer Terrororganisation erst einmal abgetrennt, und wir
können in Freiheit auf unsere Berufungsverhandlung warten.
Wann soll denn die Entscheidung des obersten Berufungsgerichts kommen?
Das kann dauern. Mein Eindruck ist, die Richter dort legen das Verfahren
erst einmal auf Eis und wollen warten, bis sich die Lage etwas beruhigt
hat. Rein juristisch müssten sie uns freisprechen, aber das ist eben ein
politisches Verfahren. Am Ende können wir ja auch noch zum Europäischen
Gerichtshof nach Straßburg gehen. Bis zu einem endgültigen Urteil werden
noch Jahre vergehen.
Nicht nur Sie persönlich werden bedroht, ihre Zeitung wurde schon
angegriffen, etliche andere Journalisten angeklagt und teils verurteilt.
Zum einen wegen Beleidigung des Präsidenten, aber auch wegen der
Veröffentlichung der Titelseite der französischen Satirezeitung Charlie
Hebdo. Haben die Mitarbeiter von Cumhuriyet Angst?
Sehen Sie, Cumhuriyet ist mit 92 Jahren die älteste Tageszeitung der
türkischen Republik. Cumhuriyet wurde immer wieder angegriffen. Insgesamt
sieben Journalisten von Cumhuriyet sind im Laufe der Jahre ermordet worden.
Die Journalisten und Journalistinnen von Cumhuriyet sind mutig, sonst
würden sie gar nicht hier arbeiten. Aber natürlich haben einige auch Angst
und das aus gutem Grund. Wir sind ja nicht nur bei Erdoğan-Anhängern
verhasst, es gibt auch konkrete Drohungen des IS wegen unseres Engagements
in der Charlie-Hebdo-Affäre. Bei einer Anti-IS-Razzia ist der Polizei
kürzlich eine Liste mit Attentatszielen in die Hände gefallen und
Cumhuriyet stand da ganz oben mit drauf.
Sie kritisieren, dass die EU die schlechte Menschenrechtslage in der
Türkei, die Repression gegen Kurden und die Unterdrückung von Meinungs- und
Pressefreiheit einfach ignoriert und damit ihre eigenen Werte verrät. Jetzt
weigert sich das EU-Parlament, über die Abschaffung des Visazwangs für
türkische Bürger zu diskutieren, weil Erdoğan eine Änderung der
Antiterrorgesetze ablehnt. Ist das in ihrem Sinne?
Die angebliche Abschaffung des Visazwangs war doch von Anfang an eine große
Lüge. Weder hat die türkische Regierung ernsthaft damit gerechnet und schon
gar nicht die EU ernsthaft vorgehabt, den Visazwang für Türken aufzuheben.
Das war ein Betrug der türkischen Bevölkerung als Teil des schmutzigen
Flüchtlingsdeals zwischen Erdoğan und Merkel. Erdoğan hatte nie vor, diese
unsäglichen Antiterrorgesetze zu ändern. Damit regiert er ja, das ist ja
ein Kernelement seiner Herrschaft. Das weiß man natürlich auch in Brüssel.
Soll die Europäische Union besser gar nicht mehr mit Erdoğan reden, sondern
ihn möglichst isolieren?
Nein, dann würde man ihn ja ganz nach Osten treiben. Man soll mit ihm
reden, ihn einbinden, aber gleichzeitig immer die undemokratische
Entwicklung hier kritisieren. Stattdessen hat Frau Merkel bei ihren
zahlreichen Besuchen hier nie ein Wort dazu gesagt.
Wie geht es in der Türkei jetzt politisch weiter? Wird Erdoğan seine
Präsidialverfassung durchsetzen?
Mit Erdoğan geht es zu Ende, er findet ja noch nicht mal mehr einen
Ministerpräsidenten. Nein, ernsthaft, bislang fehlt ihm für eine neue
Verfassung die Unterstützung aus anderen Parteien. Die AKP hat jetzt
angekündigt, statt einer komplett neuen Verfassung die existierende erst
einmal schrittweise im Sinne Erdoğans zu verändern. Zunächst soll er auch
als Staatspräsident wieder Parteichef werden dürfen. Dafür wollen sie jetzt
die rechtsextreme MHP ins Boot holen. Wenn ihm eine Quasikoalition mit der
MHP gelingt, wird es düster.
Das türkische Parlament will demnächst über die Aufhebung der Immunität von
Abgeordneten abstimmen, gegen die die Staatsanwaltschaft ein Verfahren in
der Schublade liegen hat. Das würde vor allem die kurdische HDP treffen.
Trotzdem hat der Chef der sozialdemokratischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu,
angekündigt, seine Partei sei für die Immunitätsaufhebung. Warum macht er
das?
Kılıçdaroğlu hat Angst, von der AKP zu sehr in die Nähe der Kurden gerückt
zu werden, womöglich als Unterstützer der PKK bezeichnet zu werden. Es ist
eine Schande, aber die CHP ist keine linke Partei. Die Türkei braucht
endlich eine linke Partei.
Sie wären ja geradezu dazu prädestiniert, eine zu gründen.
Ja, das ist mir schon von etlichen Leuten angetragen worden. Aber ich bin
Journalist, und das würde ich auch gerne bleiben.
15 May 2016
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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