# taz.de -- Kommentar Visumsfreiheit für Türken: Unwürdiger Kuhhandel | |
> Dass die Visumsfreiheit für Türken nun früher kommt, beruht auf keiner | |
> objektiven Bewertung. Das Verhalten der Türkei und der EU ist unwürdig. | |
Bild: Erpresst die EU: der türkische Präsident Erdoğan | |
Eigentlich sollte es erst im Herbst so weit sein. Im Oktober, so war es | |
vereinbart, werde die Europäische Union die Visumpflicht für 75 Millionen | |
Türken aufheben. Dass es nun noch schneller gehen soll, klingt zunächst wie | |
eine gute Nachricht. | |
Vor allem die vielen Türkinnen und Türken mit Familie in Deutschland können | |
es kaum erwarten, dass die schikanösen Auflagen bei der Einreise endlich | |
fallen. Sie dürften als erste von der neuen Freiheit Gebrauch machen; sie | |
sind herzlich willkommen. | |
Alles andere als willkommen hingegen sind die Begleitumstände, unter denen | |
die Visumpflicht nun fallen soll. Sie sind weder der Europäischen Union | |
noch der Türkei würdig. Und sie könnten sich noch bitter rächen. Fangen wir | |
mit der Türkei an: Dies ist kein normales Land wie die USA oder die anderen | |
50 Staaten, die bereits ohne Visum auskommen. Es ist ein Land im Krieg, das | |
militärisch gegen die eigene Bevölkerung vorgeht und noch dazu von Terror | |
bedroht ist. | |
Reisefreiheit ist in diesem Land ein Mittel, um den eigenen Problemen zu | |
entfliehen – aber auch eins, um von diesen Problemen abzulenken. Genau das | |
ist das Ziel von Staatspräsident Erdoğan, der wie ein Autokrat herrscht und | |
seine Bürger knebelt. | |
Um sein Ziel zu erreichen, hat Erdoğan die EU erpresst: Sollte die | |
Visumpflicht nicht tatsächlich Ende Juni fallen, so werde auch der | |
Flüchtlingsdeal hinfällig, den er mit Kanzlerin Angela Merkel vereinbart | |
hat. Wer so droht, ist kein würdiger Partner. | |
## Korruption in sieben Wochen bekämpfen | |
Unwürdig ist aber auch das Verhalten der Europäischen Union. Sie hätte nie | |
zulassen dürfen, dass die Liberalisierung, über die bereits seit drei | |
Jahren verhandelt wird, mit der neuen (Anti-) Flüchtlingspolitik vermischt | |
wird. Nun sitzt sie in der Falle. Und diese Falle hat schon zugeschnappt, | |
wie man an den Verrenkungen der EU-Kommission sieht. Obwohl die Türkei noch | |
nicht alle 72 Bedingungen erfüllt hat, gibt die Kommission trotzdem schon | |
grünes Licht für die Visa-Liberalisierung – offenbar aus Angst vor Erdoğan. | |
Dass die EU gleichzeitig fordert, Ankara solle noch fünf „Benchmarks“ | |
erfüllen, macht die Sache nicht besser. Denn wie soll binnen sieben Wochen | |
die Korruption bekämpft werden? Wie kann man erwarten, dass die Türkei in | |
Sachen Terrorismus plötzlich europäisch denkt? | |
Und das sind nur zwei der fünf noch offenen Bedingungen. Die zur | |
Terror-Abwehr wichtige Zusammenarbeit mit der europäischen Polizeibehörde | |
Europol und den nationalen Diensten gehört auch dazu. Wenn man bedenkt, | |
dass fast alle IS-Terroristen über die Türkei nach Europa eingereist sind, | |
sind das hohe Hürden. Bis Ende Juni sind sie nie und nimmer zu nehmen – | |
schon gar nicht von einem Mann, der sogar Wissenschaftler und Journalisten | |
als Terroristen beschimpft. Dennoch behauptet Merkel schon jetzt, die | |
Türkei werde das schaffen. | |
## Pressefreiheit bleibt auf der Strecke | |
Dies zeigt, dass es gar nicht mehr um eine objektive Bewertung der | |
Fortschritte oder um vollständige Einhaltung der EU-Kriterien geht. Die | |
Visumsfreiheit ist Gegenstand eines Kuhhandels geworden, den man so bisher | |
nur auf dem Basar kannte. | |
Ausgerechnet die Presse- und Meinungsfreiheit bleibt dabei auf der Strecke. | |
Sie gehört bezeichnenderweise nicht zu den Bedingungen, die die Türkei noch | |
bis Juni erfüllen muss. Bleibt zu hoffen, dass das Europaparlament hier | |
noch nachbessert. | |
Die Chancen stehen allerdings nicht gut. Erdoğan hat eine Türkei-Erklärung | |
des EU-Parlaments bereits für „null und nichtig“ erklärt. Nun verlässt er | |
sich auf Merkel: Sie soll – und wird – dafür sorgen, dass der Deal nicht an | |
Straßburg scheitert. Oder? | |
5 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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