# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: „Die Medien sind ein schwarzes Loc… | |
> Über 106.000 Menschen verfolgen Elif Ilgaz' Tweets aus Gerichtssälen und | |
> von Straßenprotesten. Ein Gespräch über Bürgerjournalismus und Trolle. | |
Bild: Das Grab von Berkin Elvan. Elif ilgaz erinnert täglich mit einem Tweet a… | |
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taz. die günlük gazete: Frau Ilgaz, Sie zählen zu den ersten | |
„Twitter-JournalistInnen“ der Türkei. Warum arbeiten Sie nicht bei einem | |
klassischen Nachrichtenmedium? | |
Elif Ilgaz: Ich habe jahrelang professionell als Journalistin gearbeitet, | |
beim Fernsehen und bei Zeitungen. Als eines meiner Kinder krank wurde, | |
musste ich mich aus dem Beruf für eine Weile zurückziehen. Als ich wieder | |
arbeiten wollte, hatte sich die Presselandschaft in der Türkei völlig | |
verändert. Es gab keine Medien, bei denen ich richtigen Journalismus machen | |
konnte. | |
Aber es gibt doch noch oppositionelle Medien? | |
Ja, aber von deren Gehältern konnte ich nicht leben. So ist das leider | |
derzeit in der Türkei: Wer Teil der freien Presse sein möchte, muss sein | |
Geld meist woanders verdienen. Also wechselte ich die Branche. Ich | |
produziere Werbefilme und Dokumentationen. Nebenbei versuche ich, so gut es | |
geht, Gerichtsprozesse zu verfolgen und Nachrichten zu verbreiten. | |
Wie kamen Sie zu Twitter? | |
Ich habe Twitter anfangs, wie viele, erst mal nur als soziales Medium | |
genutzt, um in Kontakt mit Freunden und Verwandten zu sein. Im Jahr 2011 | |
begann dann der Prozess gegen den Studenten Cihan Kırmızıgül, der wegen | |
Terrorverdachts angeklagt und später zu elf Monaten Haft verurteilt wurde. | |
Die Zeitungen haben sich kaum für den Fall interessiert. Ich bin trotzdem | |
zu den Verhandlungen gegangen. Es hat mich extrem wütend gemacht, zu sehen, | |
wie verzweifelt der junge Mann war und welches Unrecht ihm angetan wurde. | |
Ich fing an, darüber zu twittern, und gewann schnell neue Follower. Und | |
plötzlich berichteten die Zeitungen doch über den Fall. | |
Gab es ein bestimmtes Thema, durch das Sie besonders viele neue Follower | |
bekamen? | |
Eigentlich nicht, es war eine langfristige Entwicklung. Als die | |
Journalisten Ahmet Şık und Nedim Şener ebenfalls 2011 angeklagt und zu | |
Freiheitsstrafen verurteilt wurden, begann ich mit ein paar Freunden, über | |
Details des Falls zu twittern. Ahmet Şık ist ein guter Freund von mir und | |
ein hervorragender Journalist. Es brach mir das Herz, als er ins Gefängnis | |
kam. Ich zählte über Twitter die Tage seiner Untersuchungshaft mit und | |
jene, die ohne Anklageschrift verstrichen. Das war der erste Fall, bei dem | |
ich sehr viel Feedback bekam und Mails von Leuten, die sich bei mir | |
bedankten. Ich merkte, dass sie hungrig nach Informationen waren. | |
Warum ist Twitter in der Türkei als Nachrichtenmedium so populär? | |
Weil die Presse unter ernsthaftem Druck steht, werden Informationen | |
mittlerweile schneller und bündiger über das Internet verbreitet. Und die | |
Leute finden bei Twitter Nachrichten, die sie bei klassischen Medien nicht | |
finden. Natürlich gibt es oppositionelle Zeitungen wie Birgün, Evrensel und | |
Özgür Gündem, doch deren Nachrichten verbreiten sich inzwischen auch eher | |
über Twitter, und zwar so intensiv, dass die Printauflagen kaum noch etwas | |
über deren Reichweite aussagen. Zudem war Twitter schon immer wichtig beim | |
Organisieren von Protesten – auch schon vor Gezi, als es zum Beispiel um | |
das Internetverbot ging oder das Abtreibungsverbot. Frauen haben sich über | |
Twitter zusammengeschlossen und feministische Demos organisiert. Aus | |
Protest gegen Erdoğan gingen Leute auf die Straße und ich mit ihnen, um | |
davon zu berichten. | |
Sie waren auch während der Geziproteste aktiv. | |
Ich habe nicht tagelang im Gezipark gezeltet, aber ich war ständig dort und | |
fühlte mich als Teil des Ganzen. Später verfolgte ich viele | |
Gerichtsprozesse gegen Demonstranten oder Verhandlungen von Angehörigen der | |
Todesopfer durch Polizeigewalt. | |
Eines dieser Todesopfer war der 14-jährige Berkin Elvan, der von einem | |
unbekannten Polizisten angeschossen wurde und nach 9 Monaten im Koma starb. | |
Sie twittern jeden Tag für ihn, noch heute. | |
Ja, nach all den fragwürdigen Statements der Regierung und ihrem Umgang mit | |
den Opfern war mir klar, dass Berkin nur eine weitere Akte sein würde, die | |
unter all den anderen Akten von Ermordeten verschwinden würde. Deshalb fing | |
ich an, jeden Tag zu twittern, wie viele Tage seit seiner Verletzung | |
vergangen sind: „Seit Berkin erschossen wurde, sind 1.050 Tage vergangen | |
und sein Mörder wurde immer noch nicht gefunden.“ Ich möchte, dass die | |
Leute so etwas nicht vergessen, Berkin war ein Mensch, nun ist er eine | |
Akte, zu der noch immer ermittelt wird. Bis heute wurde kein Verdächtigter | |
ermittelt. | |
Werden Sie für Ihre Tweets angefeindet? | |
Es gibt diese AK-Trolls, eine organisierte Gruppe der AKP, die im Netz alle | |
Oppositionellen attackiert. Unter denen habe ich auch zu leiden. Vor allem | |
für meine Tweets zu Berkin Elvan bekomme ich seit Jahren Morddrohungen und | |
werde beschimpft. Besonders schlimm wurde es, nachdem mich ein paar | |
Kolumnisten bei regierungsnahen Medien öffentlich an den Pranger gestellt | |
haben. Ich habe angefangen, die Drohungen zu archivieren, und dachte | |
darüber nach, alle einzeln anzuzeigen. Aber es waren einfach zu viele. Da | |
erschien es mir einfacher, alle Absender zu blockieren. | |
Bezeichnen Sie sich selbst als Bürgerjournalistin? | |
Ja, ich mag diese Bezeichnung. Aber ich bin mir auch bewusst, dass sie | |
nicht immer etwas Positives bedeutet. Wenn sich die falschen Leute so | |
nennen, können sehr zweifelhafte Inhalte dabei herauskommen. Man darf sich | |
auf keinen Fall auf jede Nachricht, die bei Twitter erscheint, verlassen. | |
Ich teile auch nur Nachrichten von Journalisten, die ich kenne. Es | |
zirkulieren sehr spekulative Texte und das Internet ist äußerst anfällig | |
für Manipulationen. Ich kontrolliere jede Quelle mehrfach. | |
Was ist der Unterschied zwischen klassischem Journalismus und | |
Twitterjournalismus? | |
Dass man sich auf 140 Zeichen beschränken muss. Natürlich schicke ich | |
Tweets nach, aber sie sind alle voneinander getrennt. Es gibt keinen Fluss | |
und es liest sich im Ganzen nicht so bequem wie ein richtiger Artikel. Man | |
versucht so schnell und so kurz wie möglich zu schreiben. Aber es geht ja | |
bei Twitter nicht nur um meine Inhalte. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich teile auch Links zu Artikeln von anderen AutorInnen. Meine | |
Followerschaft weiß, welche Art von Nachrichten sie von mir bekommen. Ich | |
teile zum Beispiel keine Wirtschaftsnachrichten, auch wenn sie mich | |
interessieren. Aber das ist kein Gebiet, auf dem ich mich auskenne. Ich | |
beschäftige mich schon lange mit Menschenrechten, mit der Situation von | |
Studierenden, mit Kinder- und Frauenrechten und mit der Pressefreiheit. | |
Artikel zu diesen Themen, die ich für lesenswert halte, teile ich, sodass | |
meine Follower sie nicht selbst zusammensuchen müssen. | |
Welche Themen sind derzeit in den türkischen Medien unterrepräsentiert? | |
Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Die Mainstreammedien sind ein | |
einziges schwarzes Loch. Nachrichten zum Umweltschutz finden so gut wie gar | |
nicht statt, genauso wie die Situation von Frauen. Frauen werden lediglich | |
thematisiert, wenn sie Opfer von Gewalt werden. Die politische Lage im Land | |
ist so verworren, dass sie die gesamten Nachrichten besetzt, da bleibt kein | |
Platz für anderes. Gleichzeitig ist der Umgang mit Journalisten so unfair, | |
jede oppositionelle Meinung, jede Kritik wird als „Beleidigung des | |
Präsidenten“ verurteilt. Man weiß gar nicht, worüber man sich noch wundern | |
soll. | |
3 May 2016 | |
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## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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