# taz.de -- Türkisch-kurdische Zeitung in Istanbul: Jeden Tag ein Kampf ums Le… | |
> Özgür Gündem ist die einzige türkisch-kurdische Zeitung. Wer für sie | |
> schreibt, muss täglich mit einer Festnahme oder Anklage rechnen. | |
Bild: Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“ zu Besuch in der Redaktio… | |
Istanbul taz | Wenn Ahmet Birsin zu seinem Schreibtisch will, dann läuft er | |
an Bildern seiner ermordeten Kollegen vorbei. Rund 80 Journalisten der | |
Zeitung Özgür Gündem sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten getötet | |
worden, erst kürzlich kam ein Kollege im südosttürkischen Cizre bei der | |
Arbeit ums Leben. In einem der Büros hängt ein Banner mit einigen Bildern | |
der Toten. „Der Kampf ums Überleben ist unser Alltag“, sagt Birsin, der | |
selbst insgesamt fünfzehn Jahre in diversen Gefängnissen im Südosten der | |
Türkei saß. Der 48-jährige kurdisch-türkische Journalist kann nur mit Mühe | |
laufen, sein Gang ist schleppend – die Folter in den Haftanstalten hat ihre | |
Spuren hinterlassen. | |
Wer für das Blatt arbeitet, muss täglich mit einer Festnahme oder einer | |
Anklage rechnen. Denn aus der Sicht der türkischen Regierung und türkischer | |
Nationalisten ist die Özgür Gündem („Freie Tagesordnung“) Unterstützer | |
einer Terrororganisation – der verbotenen Rebellengruppe Arbeiterpartei | |
Kurdistans (PKK). Repressalien von wechselnden Machthabern und durch | |
Nationalisten sind die Macher gewohnt. | |
Der Druck auf die Zeitung hat zugenommen, seit im Herbst letzten Jahres der | |
Friedensprozess zwischen Ankara und der PKK aufgekündigt wurde und der | |
Konflikt im kurdischen Südosten des Landes wieder eskaliert. Nahezu jeden | |
Tag würden neue Anklagen herein flattern, gegen die | |
Özgür-Gündem-Mitarbeiter wären momentan rund 100 Verfahren anhängig, sagt | |
Birsin. | |
Weil der Druck so hoch wie noch nie zuvor gestiegen sei, startete die | |
Zeitung am 3. Mai, zum Tag der Pressefreiheit, eine Sonderaktion. Durch | |
mehr Öffentlichkeit soll auf die eigene Situation aufmerksam gemacht | |
werden. Die Idee dazu sei dem Anwalt Özcan Kılıç gekommen, der seit 20 | |
Jahren das Blatt vertritt – noch nie zuvor habe er solch massive staatlich | |
gelenkte Repressalien erlebt. | |
Seitdem übernehmen Unterstützer symbolisch für einen Tag den Posten der | |
Chefredaktion. Die Namen werden in der jeweils aktuellen Ausgabe | |
veröffentlicht. Zu den Unterstützern gehören unter anderem Journalisten der | |
regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet und der Internetplattform | |
Bianet, prominente Schreiber wie Ayșe Düzkan, Ertuğrul Mavioğlu, Uğur Gü�… | |
Bisher wurde gegen rund 45 Unterstützer Ermittlungen eingeleitet. Der | |
Stuhl, auf dem die Unterstützer Platz nehmen, wird in der Redaktion zynisch | |
„die Anklagebank“ genannt. | |
## Jahrelange Untersuchungshaft | |
Nach Angaben von Kılıç führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf | |
Grundlage der Antiterrorgesetze. Es werde auch gegen 15 weitere | |
Unterstützer ermittelt. Darunter sei eine Politikerin der prokurdischen | |
Oppositionspartei HDP sowie Akademiker und Journalisten. Die | |
Antiterrorgesetze in der Türkei sorgen seit Längerem für Streit zwischen | |
der EU und der Türkei. | |
Die EU fordert eine Änderung, damit sie nicht gegen Oppositionelle | |
missbraucht werden können. Präsident Recep Tayyip Erdoğan lehnt dies strikt | |
ab. Anklagen nach dem Antiterrorgesetz werden von einer | |
Sonderstaatsanwaltschaft verfolgt und die Beschuldigten vor Sondergerichten | |
angeklagt. Bevor es überhaupt zur Anklage kommt, ist eine lange, manchmal | |
jahrelange Untersuchungshaft die Regel. | |
Noch immer gibt es in der Türkei oppositionelle Zeitungen wie Birgün und | |
Evrensel – doch Özgür Gündem ist die einzige türkisch-kurdische | |
Tageszeitung, die sich explizit kurdischen Themen widmet. | |
Rund 40 Mitarbeiter arbeiten landesweit für das Blatt, welches türkeiweit | |
mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren erscheint, und deren | |
Zentralredaktion sich in Istanbul befindet. Die Zeitung erscheint auf | |
Türkisch, auf den Redaktionsschreibtischen liegen Sprachwörterbücher, denn | |
nicht jeder in der Redaktion kann Kurdisch, eine Sprache, die mit dem | |
Türkischen nicht verwandt ist. | |
## Mindestlohn für die Journalisten | |
Finanziell kämpft das Blatt schon immer ums Überleben. Wichtige | |
Einnahmequellen sind deswegen Spenden, es gibt ein gestaffeltes Abosystem | |
und einen Solipreis. Den Mitarbeitern wird der Mindestlohn von 1.300 | |
Türkischen Lira gezahlt – etwa 400 Euro. „Doch trotz der widrigen Umstände | |
würde ich niemals einen anderen Job machen wollen“, sagt Birsin. „Wir | |
kämpfen doch für die Wahrheit.“ | |
Gegründet wurde die Özgür Gündem 1992, zu einer Zeit, als die | |
kurdisch-türkische Politikerin Leyla Zana – mit drei weiteren kurdischen | |
Aktivisten in das türkische Nationalparlament gewählt – wegen des Gebrauchs | |
der kurdischen Sprache im Parlament verhaftet und mit den drei weiteren | |
Abgeordneten zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. | |
Mehrfach schon wurden Druck und Vertrieb der Zeitung verboten mit der | |
Begründung, die Özgür Gündem verbreite Propaganda für die PKK. Das Blatt | |
ist durch viele Verbotsverfügungen mit wechselnden Namen erschienen – zum | |
Beispiel Gündem, Yeni Gündem – und seit 2011 wieder unter dem | |
Ursprungsnamen Özgür Gündem. | |
Dass das Medium oft Kanal für Vorschläge seitens der PKK ist, ist | |
unbestritten. Lange Ausführungen „Apos“, wie PKK-Chef Abdullah Öcalan von | |
seinen Anhängern genannt wird, sind gelegentlich in der Tageszeitung zu | |
lesen. Aber für die Macher ist es vor allem ein Kanal des Austausches. „Wir | |
Kurden werden doch sonst nur als Terroristen in den Medien dargestellt“, | |
kritisiert Birsin.“ Deswegen sind wir ein unentbehrliches Medium, um zu | |
zeigen, dass das kurdische Problem den Weg des Terrors verlässt und im | |
Körper der zivilen demokratischen politischen Institutionen existieren | |
kann.“ | |
## Schlimmer als vor dem Putsch | |
Auch Erol Önderoğlu, Türkei-Korrespondent der Organisation Reporter ohne | |
Grenzen, Şebnem Korur Fincancı, Vorsitzende der Stiftung für Menschenrechte | |
(TIHV), und Ahmet Nesin, Journalist und Schriftsteller, stemmten sich gegen | |
die staatliche Einschüchterung. Die drei in der Türkei sehr prominenten | |
Linken übernahmen für einen Tag die Redaktionsleitung der Özgür Gündem und | |
mussten für ihr Engagement sogar ins Gefängnis: Mitte Juni wurden sie nach | |
einem Vernehmungstermin vor Gericht direkt in Gewahrsam genommen. | |
Innerhalb weniger Tage hatte es die Staatsanwaltschaft geschafft, eine | |
Anklageschrift vorzubereiten und an die Große Strafkammer in Istanbul zu | |
übermitteln, die für schwere Strafsachen zuständig ist. Darin werden | |
Haftstrafen von bis zu 14 Jahren gefordert. Anderthalb Wochen nach ihrer | |
Festnahme wegen „terroristischer Propaganda“ wurden Önderoğlu und Fincanc… | |
wieder freigelassen, mit einer Freilassung des Autors Nesin sei bald zu | |
rechnen, berichteten türkische Medien. Die Ermittlungen gegen alle drei | |
würden aber fortgesetzt. | |
„Die Situation in der Türkei ist noch schlimmer als vor dem Militärputsch | |
1980“, sagt der Journalist Mehmet Akyol. „Es war wie ein Theaterstück“, | |
sagt er in seiner Wohnung in Istanbul. Er ist 62 Jahre alt, trägt einen | |
weißen Schnäuzer und raucht Pfeife. | |
Der ausgebildete Maschinenbauingenieur schrieb in den 70ern für ein | |
sozialistisches Blatt, welches das Parteiprogramm der PKK veröffentlichte. | |
1980 dann, drei Wochen vor dem Militärputsch, floh er in die Schweiz, wo er | |
insgesamt 35 Jahre lebte und bei einer Gewerkschaft arbeitete. | |
## „Wir sind ein Feindbild“ | |
Vor vier Jahren kehrte der Türke zurück nach Istanbul, seit zwei Jahren | |
arbeitet er jetzt bei der Özgür Gündem, wo er sich ebenfalls auf | |
Gewerkschaftsthemen spezialisiert hat. „Jeder von uns muss täglich damit | |
rechnen, von Staatspräsident Erdoğan verklagt zu werden, ins Gefängnis zu | |
müssen oder ermordet zu werden“, so Akyol. | |
Früher habe es nicht solch eine systematische Verfolgung von Journalisten | |
gegeben, vergleicht er die Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Junta habe | |
zwar auch keine Berichterstatter gemocht, aber der Hass der AKP-Regierung | |
auf Journalisten sei unvergleichbar. | |
Warum er jetzt wieder als Journalist arbeitet? Er könnte ein gemütliches | |
Leben als Rentner in der Türkei verbringen. Doch er hat sich entschieden, | |
wieder gegen das System anzuschreiben. „Das bequeme Leben ist nichts für | |
mich“, so Akyol mit ruhiger Stimme. „Wenn ich mich nicht jetzt | |
solidarisiere, wann dann?“ Immer weniger Kioske seien bereit, die Zeitung | |
zu verkaufen. | |
Privatpersonen, die Abo-Exemplare verteilen, seien immer wieder Drohungen | |
oder gar körperlichen Angriffen ausgesetzt. „Für die Regierung und für | |
Nationalisten sind wir ein Feindbild, weil wir die Rechte von Kurden und | |
anderen Minderheiten verteidigen“, so Akyol. „Wenn es so weitergeht, wird | |
ein Zusammenleben zwischen Türken und Kurden unmöglich.“ | |
6 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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