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# taz.de -- Kampf gegen den IS: Vermintes Land
> Im Nordirak kämpfen Kurden, Turkmenen und Araber mal mit-, mal
> gegeneinander. Waffen aus dem Westen beschleunigen den Zerfall der
> Region.
Bild: Die Peschmerga kämpfen mit Waffen aus UdSSR-Beständen, schützen sich m…
KIRKUK taz | Mohammed Hussein Valis Blick richtet sich immer wieder nach
oben, so als würde an der Decke seines Krankenhauszimmers die Erlösung
warten. Ein Tuch bedeckt seinen Oberkörper, aber nicht das einbandagierte
linke Bein. Da, wo das rechte sein sollte, ist nur noch ein in Mull
gewickelter Stumpf übrig, aus dem Blut tropft.
Valis ist schiitischer Turkmene. Vor zwei Tagen haben ihn seine noch
unversehrten Beine zurück nach Beşiir Kasabasi nahe Kirkuk getragen, wo er
vor 19 Jahren geboren wurde. Wo das Haus seiner Familie lag, sieht er nach
einem Luftangriff der internationalen Koalition gegen den IS nur noch
Trümmer.
Zwischen Leichen und Schutt haben sich noch Heckenschützern des IS
versteckt. Außerdem gibt es Mienen. Einer aus Valis Gruppe macht einen
falschen Schritt. Die Explosion reißt zwei Peshmerga und zwei Schiiten in
Stücke. Die Splitter fliegen wie eiserne Dornen durch die Luft. Sie treffen
auch Vali, der weiter hinten läuft.
Jetzt liegt er im Krankenhaus in Kirkuk. Vielleicht liegt es an den Drogen,
vielleicht an den Bildern im Kopf vom Tod seiner Kameraden: Für Vali steht
fest, dass Kurden und Schiiten niemals Feinde sein können: „Die Peshmerga
sind meine Brüder und werden es bleiben.“
## Sunnitische Araber, schiitische Turkmenen
Wenn der 19-Jährige von Schiiten spricht, meint er die Turkmenen, sein
Volk, das mit den Türken verwandt ist. Sie sind Teil des Konglomerats von
Volks- und Religionsgruppen, das es im Nordirak neben der kurdischen
Mehrheit gibt. Seit je her leben schiitische und sunnitische Araber,
christliche Armenier, Chaldäer und Turkmenen in dem Gebiet, das nun von den
Kurden verwaltet wird. Früher mag das Bild vom friedlichen Miteinander
gestimmt haben. Aber die Lage ändert sich.
Knapp 14 Kilometer nordöstlich von Beşiir Kasabasi, in dem Örtchen Taza
Khurmatu, richten Kurden und arabische Schiiten gerade die Waffen
aufeinander.
Gemeinsam haben sie den Ort am selben Tag eingenommen wie Beşiir Kasabasi.
Aber dann konnten sich beide Seiten nicht einigen, wer was in der befreiten
Ortschaft kontrollieren soll. Also gehen die Kämpfe weiter, obwohl der IS
besiegt ist.
Die religiöse-ethnische Spaltung des Irak setzt sich im Kampf gegen den IS
fort: Die einzelnen Gruppen marschieren getrennt zur Front und achten
penibel auf die eigene Flagge.
## Im Wirrwarr der verfeindeten Gruppen
So wie irakische Araber sich als Sunniten und Schiiten bekämpfen, teilen
sich die Schiiten in turkmenische und arabische Milizen. Es entstehen immer
immer kleinerer Einheiten, die um Waffen und Einfluss konkurrieren. Damit
zeichnet sich eine Entwicklung wie in Libyen ab. Dort wuchs die Zahl der
bewaffneten Verbände, während das Bewusstsein der Libyer, ein
Nationalgefühl zu teilen, schwand.
Im Irak reicht in der Kurdenregion selbst die Erfahrung der Unterdrückung
unter Saddam Hussein nicht mehr, um eine gemeinsame Identität zu stiften.
Viele Jesiden verstanden sich in der Vergangenheit als Kurden. Zwei Jahre
nachdem der IS in ihrem Teil Kurdistans gewütet hat, bauen sie zum Ärger
der kurdischen Autonomieregierung in Erbil nun lieber eine eigene kleine
Armee auf, als auf die Peshmerga zu vertrauen.
Im Wirrwarr der verfeinden Gruppen ist eine Allianz zwischen Turkmenen und
Kurden also nicht widersprüchlich, weil anderswo Kurden und arabische
Schiiten die Klingen kreuzen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund –
diese Maxime gilt im in seine Atome zerfallenen Irak ebenso wie in anderen
nahöstlichen Krisenstaaten.
In Beşiir Kasabasi räumen die Turkmenen nun Minen weg, während die
Peshmergaan Erdwällen hinter dem Ort postiert sind. Die Peshmerga richten
ihre Kanonen auf einen Hügel, um den turkmenischen Minenräumern Deckung zu
geben. Von dort feuert der IS immer noch Mörser in Richtung Beşiir
Kasabasi. Detonationen sind zu hören, Rauchschwaden ziehen heran. Die
Minensucher verrichten lebensgefährliche Arbeit.
## Schnapshändler und Bierreklamen
Auf dem Weg von der Front ins Hinterland steht ein sunnitischer Geistlicher
am Straßenrand und hält sein Gesicht in eine Fernsehkamera. Der Scheich
will den kurdischen Kämpfern Worte des Trostes spenden, bevor sie in die
Schlacht gegen den IS ziehen. Die Peshmerga sind zwar überwiegend Sunniten.
Vielleicht würden sie sich über einen Kasten Bier trotzdem mehr freuen.
Überall, wo die Kurden in vom IS gehaltenes Territorium eindringen, folgen
Schnapshändler und Bierreklamen.
Der sunnitische Islam der Kurden ist nicht der Islam der schiitischen
Turkmenen. Deren Frauen hüllen sich in den Tschador, und in den Dörfern
entlang der Front müssen ihnen die Peshmerga mit ihren Fraueneinheiten und
Bier trinkenden Kämpfern wie Besatzer vom Mars vorkommen.
Im Moment machen sie dennoch gemeinsame Sache gegen den IS. Ihr Ziel ist
aber ein eigenes Turkmenengebiet. Ausgerechnet Kirkuk, das die Kurden
vehhement beanspruchen, soll einmal die Hauptstadt sein.
Die Kämpfer des Zweiten Peshmerga-Battalions rasten einen Kilometer hinter
den Erdhügeln in einem Haus, das einst IS-Kommandeure beherbergt hat. Ein
geschlachtetes Kaninchen wird aufgetischt, und die Peshmerga sagen zum
Spaß, dass dann wohl auch an anderen Frontabschnitten ein Kaninchen dran
glauben musste – das Gleichheitsprinzip sei das Geheimnis der Schlagkraft,
sagt Leutnant Herish Omar.
## Der tödliche Geruch von Bananen
Die „Anderen“, damit meint er die irakische Armee und die Schiitenmilizen,
seien nur Söldner einer Regierung, deren Parlament in Bagdad gerade von
Demonstranten gestürmt wurde. Der Satz enthält einen Vorwurf und eine
Forderung an den Westen.
Immer wieder sagen kurdische Kommandeure, dass sie künftig die erste
Adresse bei Waffenlieferungen der Anti-IS-Koalition sein sollten – nicht
die irakische Armee und ihre verbündeten Schiitenmilizen. Die Hauptlast des
Kampfes tragen die Kurden, und der Westen solle dies endlich honorieren,
meint Omar.
Ein Beispiel: Bei der Einnahme von Beşiir Kasabasi setzte der IS Giftgas
ein. Die Peshmerga warten aber immer noch auf Gasmasken, die ihnen die
Bundeswehr liefern sollte. „Uns bleibt zurzeit nichts anderes übrig, als
unsere Kämpfer zu warnen, vorsichtig zu sein, wenn es plötzlich nach
Bananen riecht“, sagt ein anderer Leutnant.
Tatsächlich feuern die Peshmerga aus Kanonen, die einst die UdSSR an Saddam
Hussein lieferte. Sie tragen Tauchermasken gegen den Staub und Strohhüte
mit Werbung von Marlboro als Schutz gegen die Sonne. Doch was würden die
Peshmerga machen, wenn sie massiv Ausrüstung geliefert bekämen? Leutnant
Herish Omar lässt keinen Zweifel daran, worum es geht.
## Benzin für die Feuerwehr, die den Brand löschen soll
„Wir kämpfen in erster Linie darum, unser kurdisches Land zurückzugewinnen.
Und dann gegen den IS, weil er barbarisch und ein Feind der Menschheit
ist“, sagt er. Araber und Turkmenen sollten sich an die Gesetze Kurdistans
halten. „Sie dürfen bleiben und von mir aus anderer Meinung sein, wem das
Land gehört. Aber wenn sie Verbrechen begehen, werden wir sie zur
Rechenschaft ziehen.“ Genau das passiert zur Zeit mit aller brutalen
Konsequenz in Taza Khurmatu, wo die Kurden den arabischen Schiiten die
Waffen wegnehmen wollen.
Was kurdisches Land ist, was den Turkmenen oder den Arabern zusteht,
entscheidet allein das militärische Gewicht der Parteien. Jede
Waffenlieferung liefert Munition für eine territoriale Expansion im
Schatten des Anti-IS-Kampfes. Zugleich heizt das Buhlen um die Waffen des
Westens das Misstrauen unter den ethnischen und religiösen Gruppen an.
Der Anti-IS-Kampf steckt also in einem Dilemma: Er ist auf lokale
Bodentruppen angewiesen, die an Stabilität kein Interesse haben. Sie
schaffen stattdessen militärische Tatsachen, die zu einem endlosen Konflikt
um Territorien führen. Der Westen beliefert die Feuerwehr, die den Brand
löschen soll im Grunde mit Benzin.
Taleb Ibrahim Salah sitzt auf der Holzbank einer Teestube in Kirkuk und
will nicht nach Hause. Die Frau sitzt dort mit dem Baby und wartet, dass
der Mann mit Milchpulver wiederkommt. Doch ohne Geld kann der 48 Jahre alte
Sunnit aus Baidschi, 200 Kilomter nördlich von Bagdad, keines kaufen.
## Kriegsverbrechen an der sunnitischen Bevölkerung
Zum Betteln ist Salah zu stolz. Wer sollte ihm auch helfen außer ein
anderer Sunnit? Die hätten meist auch nichts, sagt er. In Kirkuk ist er
sicher vor den Bomben. Aber die kurdische Verwaltung tut nichts für die
Arabischer. Dennoch, die Kurden seien gnädig, sagt Salah. Die Schiiten
hätten den Sunniten aus Baidschi verboten zurückzukehren, nachdem sie den
IS vertrieben haben, erzählt er. Der sunnitische Flüchtling bestätigt, was
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen schon lange
beklagen.
Die schiitischen Milizen begingen Kriegsverbrechen an der sunnitischen
Bevölkerung, heißt es in den Berichten. Wo immer sie vorrücken, schieben
sie eine Bugwelle sunitischer Flüchtlingen vor sich her. Warum leben
Sunniten wie Salah lieber im Elend unter den Kurden als in einem Gebiet,
dass die sunnitischen IS-Kämpfer unter ihrer Kontrolle haben? Jetzt, wo im
Irak nur die eigene Ethnie, die eigene Glaubensgemeinschaft Schutz zu
bieten scheint?
Taleb Ibrahim Salah bittet um Feuer. Als der IS in seine Stadt kam,
verstand er nicht, dass es nun Sünde sein sollte, Hosen und Jackett zu
tragen. Auf der Straße wurden er und sein Schwiergersohn verhaftet, weil
sie den Kleidungsvorschriften des IS nicht entsprachen. Nach einem
Luftangriff der Koalition konnte er durch ein Loch in der Mauer entkommen.
Als er auf der anderen Seite der Front ist, ruft er seine Tochter an. Sie
erzählt ihm, welche Folgen seine Flucht hatte. „Sie haben meinem
Schwiegersohn den Kopf abgeschlagen. Er musste sterben, weil ich
davongelaufen bin“, sagt Salah.
Seine Zukunft könnte in einem der Flüchtlingslager der Vereinten Nationen
im kurdischen Nordirak liegen. Dort bekäme sein Sohn wenigstens
Milchpulver. Vielleicht ist der Iraker bald Ausländer in seinem eigenen
Land, wenn das angekündigte Referendum über die kurdische Unabhängigkeit
abgehalten wird. Die einzigen, die sich wie die IS-Kämpfer selbst
Verfechter der sunnitischen Sache nennen, seien Bestien, sagt Taleb Salah
Ibrahim. Aber diese Bestien finden Zulauf in einem Krieg, in dem es für
jede Seite um alles oder nichts geht.
13 May 2016
## AUTOREN
Cedric Rehmann
## TAGS
Nordirak
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„Islamischer Staat“ (IS)
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Schwerpunkt Syrien
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Schwerpunkt Syrien
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