# taz.de -- Flucht aus dem Nordirak: Paranoia im IS-Kalifat | |
> Tausende Iraker versuchen, sich aus dem Gebiet in Sicherheit zu bringen. | |
> IS-Schmuggler verlangen 500 Dollar für die Ausreise. | |
Bild: Flüchtlinge in einem Camp nahe der kurdischen Stadt Erbil im Nordirak | |
Machmur taz | Die Nacht brach bereits an, als Umm Mohammed ihre beiden | |
Kinder an die Hand nahm und ihr Dorf verließ. Zwölf Stunden ist sie | |
marschiert, über trockene Äcker und Feldwege, immer die Angst im Nacken von | |
Kämpfern des „Islamischen Staats“ (IS), die ihr Dorf nordwestlich von | |
Kirkuk seit zwei Jahren beherrschen, entdeckt zu werden. „Wenn sie dich | |
erwischen, schießen sie“, sagt sie. | |
Wie Umm Mohammed sind zurzeit Tausende auf der Flucht vor den Extremisten. | |
Hunderttausende sitzen indes im Kalifatstaat fest – weil der IS sie als | |
menschliche Schutzschilde hält oder sie wegen der Kämpfe zwischen dem IS | |
und ihren Gegnern nicht fliehen können. Andere bleiben, weil sie sich auf | |
die Seite der Extremisten geschlagen haben. | |
Als der IS vor zwei Jahren große Teile des Irak überrannte, versprachen die | |
Extremisten den Irakern ein Leben in Würde und Gerechtigkeit. Volle | |
Marktstände, spielende Kinder und lachende Kämpfer in bukolischen | |
Landschaften – eine Art islamisches Utopia nach dem Vorbild des Propheten, | |
so sieht das Leben in den Bildern der IS-Propagandamaschinerie aus. | |
Anfangs waren viele Sunniten im Irak noch froh, das Joch der schiitisch | |
dominierten Sicherheitskräfte losgeworden zu sein. Inzwischen aber sind die | |
Lebensmittel- und Benzinpreise explodiert. Die anfängliche Erleichterung | |
wich blankem Entsetzen über die Brutalität der neuen Herrscher. „Wir haben | |
alles erlebt: Folter, Morde“, sagt Umm Mohammed. Selbst die Kinder hätten | |
zusehen müssen, wie die Extremisten in ihrem Dorf einen Mann auf offener | |
Straße hinrichteten. „Wir wären schon früher geflohen“, sagt sie. „Aber | |
dann hätten sie unsere Verwandten umgebracht.“ | |
Mit Dutzenden weiteren Frauen, Kindern und einigen Männern sitzt die | |
Enddreißigerin auf dem nackten Boden am Checkpoint der Peschmerga, der | |
Kämpfer des kurdischen Teilstaats im Nordirak, am nordwestlichen | |
Ortseingang von Machmur. Nur eine weiße Plastikplane bietet Schutz vor der | |
sengenden Sonne. Einige der Frauen tragen noch den schwarzen Vollschleier, | |
mit dem sich Frauen im IS-Gebiet verhüllen müssen. Umm Mohammed ist, wie | |
viele, nur mit den Kleidern am Leib geflohen. „Endlich sind wir frei“, sagt | |
eine Frau mit hellrosa Kopftuch. | |
## Ein Plan für Mossul | |
„Sag ihr, dass wir sie gut behandeln“, sagt der Befehlshaber der | |
Peschmerga-Einheit zu dem Offizier, der unsere Fragen beantworten soll. Im | |
Kampf gegen den IS werden schiitischen Milizen, aber auch den Kämpfern des | |
kurdischen Teilstaats im Nordirak schwere Menschenrechtsverletzungen | |
vorgeworfen. Dazu zählten Morde an sunnitischen Zivilisten durch | |
schiitische Milizionäre. Hunderte Menschen werden vermisst. Die | |
Peschmerga werden beschuldigt, ganze Dörfer sunnitischer Araber zerstört zu | |
haben. | |
Die Front ist nur wenige Kilometer von Machmur entfernt. Ende März waren | |
irakische Armeeeinheiten von hier aus in Richtung Westen vorgestoßen. Dies | |
sollte den Auftakt für die Rückeroberung der irakischen IS-Hauptstadt | |
Mossul bilden. Anfang Juli gelang den Soldaten ein Durchbruch, als sie den | |
IS aus Kajara, knapp dreißig Kilometer westlich von Machmur vertrieben. | |
Die Einnahme Kajaras ebnet den Gegnern des „Islamischen Staats“ den Weg für | |
Angriffe ins Kernland des Kalifats. Zudem befindet sich in der Nähe ein | |
alter irakischer Militärflughafen. Mitte August brachten | |
Peschmerga-Einheiten nördlich von Kajara mehrere Dörfer unter ihre | |
Kontrolle. | |
Direkt gegenüber dem Checkpoint in Machmur ist der Operationsstab | |
untergebracht, in dem Kommandanten der Armee und der Peschmerga gemeinsam | |
mit den Amerikanern das militärische Vorgehen koordinieren. | |
Die Großstadt Mossul, wo weiterhin Hunderttausende Zivilisten leben, liegt | |
rund hundert Kilometer entfernt. Der IS muss aus diesem Gebiet vertrieben | |
werden – aber die Zentralregierung und die Kurden müssen sich zuvor | |
verständigen: Erst wenn geregelt sei, wie Mossul künftig verwaltet werde, | |
könne der Angriff beginnen, sagte der kurdische Regionalpräsident Masud | |
Barzani der taz. | |
## Dorf um Dorf | |
Eine Einigung zwischen Bagdad und den Kurden ist nicht in Sicht. So scheint | |
die Devise zu sein: Dorf um Dorf. Auf jeden Angriff folgt eine neue | |
Fluchtwelle. In den letzten Wochen seien Tausende Flüchtlingen in Machmur | |
angekommen, sagt Leutnant Mohammed Sabir. | |
Im Schatten eines Containers sitzen zwanzig bärtige Männer. Einer sieht mit | |
seinem buschigen Bart und der knöchellangen Pumphose richtig | |
furchteinflößend aus. Ist er ein IS-Kämpfer? Er habe den Aufzug nur | |
gewählt, um dem IS zu entkommen, sagt Abu Ahmed. | |
Abu Ahmed, ein Lehrer, dessen wahren Namen wir wie den von Umm Mohammed | |
nicht nennen sollen, stammt aus Hawidscha. Dieser Ort war seit 2003 immer | |
Hochburg Aufständischer und der IS-Vorgängerorganisation, der al-Qaida im | |
Irak. Nach einem Massaker von Regierungstruppen an 53 Demonstranten begann | |
im April 2013 der Aufstand der sunnitischen Araber, der ein Jahr später den | |
Boden für den IS-Eroberungsfeldzug bereitete. | |
„Das Leben in Hawidscha ist völlig zum Erliegen gekommen“, sagt Abu Ahmed. | |
„Die Schulen haben sie in Indoktrinationszentren umgewandelt, in denen sie | |
unsere Kinder nach ihrem Ebenbild formen wollen.“ Im Kalifat herrsche | |
Paranoia. Mehrere Führungsfiguren wurden durch amerikanische Luftangriffe | |
getötet, nun machten die Extremisten Jagd auf vermeintliche Kollaborateure. | |
„Sie verhaften willkürlich Leute und bringen sie um.“ | |
Wie Umm Mohammed floh der Lehrer in einer dunklen Nacht. Viele Fluchtwege | |
seien vermint, sagt der Lehrer. „Ohne einen Schmuggler schaffst du es | |
nicht. Von jedem kassieren sie 500 Dollar.“ Das bestätigen die Peschmerga. | |
Früher hätten die IS-Schmuggler 300 Dollar verlangt, inzwischen seien es | |
500 Dollar, sagt Leutnant Sabir. | |
## Profit durch Menschenschmuggel | |
Angesichts von Dutzenden Flüchtlingen, die derzeit täglich in Machmur | |
ankommen, spült der Menschenschmuggel den Extremisten monatlich | |
Hunderttausende Dollar in die Kriegskasse. Immer wieder sterben Vertriebene | |
in den Minenfeldern, niemand weiß, wie viele es sind. | |
Am Checkpoint unterziehen die Peschmerga die Flüchtlinge einer ersten | |
Überprüfung. „Manchmal wissen wir schon, bevor einer ankommt, dass er ein | |
IS-Kämpfer ist“, sagt Leutnant Sabir. „Daesh“, wie Iraker den IS nach der | |
arabischen Abkürzung eines früheren Namens der Extremisten nennen, sei | |
erledigt. | |
Am Nachmittag transportieren Militärlastwagen die Flüchtlinge zum Camp | |
Dabega rund dreißig Kilometer nordwestlich von Machmur. Nach Kirkuk oder in | |
ihre Regionalhauptstadt Erbil lassen die Kurden nur Personen, die einen | |
Bürgen vorweisen können. Im Camp Dabega werden die Ankommenden erneut | |
überprüft. Bei den Männern dauere das Prozedere zwei Tage, bei den Frauen | |
gehe es schneller, sagt der stellvertretende Campleiter Bezhwen Said. Die | |
Flüchtlinge sprechen jedoch von einer Woche und mehr. Angebliche IS-Kämpfer | |
landen in den kurdischen Gefängnissen, wie viele dort inhaftiert sind, ist | |
unklar. | |
Mit seiner großen Moschee, einer Schule, einem Spielplatz, Krankenstation | |
und kleiner Ladenstraße wirkt das Camp fast wie ein Dorf. Die Vertriebenen | |
wohnen in Holzbaracken. Im Oktober wurde das Camp mit Geldern des Roten | |
Halbmonds der Vereinigten Arabischen Emirate gebaut. Das für maximal 4.500 | |
Menschen geplante Lager sei mit 7.500 Flüchtlingen bereits völlig | |
überfüllt, sagt Said. | |
Mehr als 3,3 Millionen Iraker sind durch den Krieg in ihrem Land | |
vertrieben. Fast 32.000 Menschen flohen seit Ende März nach Dabega. Dort | |
reicht das Geld nicht, um sie wenigstens mit genug Wasser, Essen und | |
Medikamenten zu versorgen. | |
## Eine Toilette für Tausende | |
Um das von irakischen Truppen im Juni eroberte Falludscha herum leben laut | |
der UNO über 85.000 Vertriebene in 66 Camps, öffentlichen Einrichtungen | |
oder Behelfsunterkünften. Mancherorts gibt es für Tausende nur eine | |
Toilette. Helfer sprechen von katastrophalen Zuständen. „Trinkwasser, | |
Latrinen und medizinische Versorgung haben nach wie vor oberste Priorität“, | |
sagte kürzlich Nasr Muflahi, Leiter des Norwegian Refugee Council im Irak. | |
Der irakischen Regierung fehlt es freilich an Geld, und die UNO hat nach | |
eigenen Angaben weniger als die Hälfte der Gelder erhalten, die sie in | |
diesem Jahr bräuchte. Im Norden ist die Versorgung der Vertriebenen zwar | |
einfacher, da es hier sicherer ist und internationale Organisationen | |
deshalb besser Hilfe leisten können. Aber außer den irakischen Vertriebenen | |
haben im Nordirak rund 220.000 Syrer Zuflucht gesucht. Auch hier klagen | |
Hilfsorganisationen über fehlende Mittel, Programme wurden | |
zusammengestrichen. | |
Je mehr das IS-Kalifat zerfällt, desto mehr Flüchtlinge wird es indes | |
geben. Bis zu 2,5 Millionen Personen könnten vertrieben werden, wenn die | |
Offensive auf Mossul beginnt, rechnet die UNO. In den Militärfeldzug gegen | |
den IS werde so viel Geld, investiert, sagte die UN-Koordinatorin Lise | |
Grand kürzlich. Es sei dringend nötig, mehr in die Hilfe für die irakische | |
Zivilbevölkerung zu investieren, die durch den Konflikt alles verloren | |
hätten. | |
In Dabega hat die UNO auf dem Sportplatz eine Zeltstadt errichtet, ein paar | |
Dutzend Kilometer entfernt entsteht ein weiteres Camp. „Wir erwarten in den | |
nächsten Wochen Zehntausende weitere Flüchtlinge“, sagt Said. „Wenn der | |
Angriff auf Mossul beginnt, werden es noch viel, viel mehr sein. Wie wir | |
das bewältigen, weiß ich nicht.“ | |
29 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Inga Rogg | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
Kurden | |
Schleuser | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Nordirak | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
Bagdad | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Irak | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Nordirak | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Human Rights Watch kritisiert Kurden: Vorwurf von Massenhinrichtungen | |
Die NGO wirft den Peschmerga vor, hunderte IS-Kämpfer hingerichtet zu | |
haben. Ein Sprecher der Kurden sagte, die Männer seien bei Kämpfen getötet | |
worden. | |
Bekämpfung des IS im Irak: Offensive auf Mossul gestartet | |
Seit Monaten verkündet die irakische Regierung, der IS werde noch dieses | |
Jahr aus Mossul vertrieben. Die Rückeroberung der Stadt hätte einen hohen | |
Symbolwert. | |
Trauerfeier in Bagdad: Mehr als 30 Tote bei IS-Anschlag | |
Das Aschura-Fest zählt zu den wichtigsten religiösen Feiern der Schiiten. | |
Ein Selbstmord-Attentäter des IS riss bei einer Trauerfeier 34 Menschen in | |
den Tod. | |
Kampf gegen den „Islamischen Staat“: Anti-IS-Koalition tief zerstritten | |
Die Offensive auf die IS-Hochburg Mossul steht kurz bevor. Die beteiligten | |
Koalitionsparteien haben jedoch gegensätzliche Interessen. | |
Die kurdische Peschmerga im Nordirak: Alles unter Kontrolle? | |
Die Bundeswehr bildet kurdische Peschmerga im Kampf gegen den IS aus – und | |
liefert Waffen. Ein Besuch am Schießstand. | |
Rückkehr eines irakischen Flüchtlings: Die Flucht ist ihm peinlich | |
Nach drei Monaten in Berlin kehrt der Kurde Gaylan Mawlud freiwillig in den | |
Irak zurück. Er warnt seine Freunde: Geht nicht nach Deutschland. | |
Kampf gegen den IS: Vermintes Land | |
Im Nordirak kämpfen Kurden, Turkmenen und Araber mal mit-, mal | |
gegeneinander. Waffen aus dem Westen beschleunigen den Zerfall der Region. |