# taz.de -- Regierungskrise in Brasilien: Archaische politische Kultur | |
> Anpassung, Wirtschaftskrise, Korruption: Warum Lulas Arbeiterpartei | |
> gerade weggeputscht wird und was sie selbst dazu beigetragen hat. | |
Bild: Nicht unschuldig am Desaster seiner Partei: Luiz Inácio Lula da Silva | |
SAO PAULO taz | Die Welt staunt: Gut fünf Jahre nachdem Brasiliens | |
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit Popularitätswerten von 86 Prozent | |
aus dem Amt schied, durchlebt seine Arbeiterpartei (PT) die schwerste Krise | |
ihrer 36-jährigen Geschichte. Nach einer beispiellosen medialen Hexenjagd | |
auf den Exgewerkschafter, dem in aktuellen Umfragen immer noch Chancen auf | |
ein Comeback an der Staatsspitze 2018 eingeräumt werden, treibt der Hass | |
gegen die PT Millionen auf die Straße – die große Mehrheit allerdings | |
schweigt, jene BrasilianerInnen zumal, denen Sozialprogramme und | |
Realerhöhungen des Mindestlohns einen bescheidenen sozialen Aufstieg | |
ermöglicht haben. | |
Im Parlament von Brasília wurde mit einem grotesken Spektakel ein | |
Amtsenthebungsverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff | |
eingeleitet, das KritikerInnen als „kalten Putsch“ bezeichnen. Unter dem | |
fadenscheinigem Vorwand der Haushaltstricksereien, die nicht nur in | |
Brasilien gang und gäbe sind, wird Rousseff der politische Prozess gemacht. | |
367 Abgeordnete stimmten gegen sie, im Namen Gottes und der Familie. Oder: | |
für das Agrobusiness und einen Folterer aus der Militärdiktatur. Gegen die | |
meisten von ihnen wird wegen Korruption ermittelt. | |
Was ist los in Brasilien? Ähnlich wie 2012 in Paraguay, doch nun mit Ansage | |
und über Monate hinweg, spielt sich hier ein parlamentarischer | |
Staatsstreich ab, im abgestimmten Zusammenspiel der alten Machteliten aus | |
Politik, Globo-Medienkonzern, den führenden Wochenmagazinen und | |
Tageszeitungen sowie Unternehmern und Teilen der Justiz. Selbst der oberste | |
Gerichtshof hält das Verfahren gegen Rousseff mehrheitlich für legal. | |
[1][Der Operettenputsch gegen Rousseff] ist ein zivilisatorischer | |
Rückschritt mit unabsehbaren Folgen. | |
Tragisch ist das vor allem, weil Lula und die PT eine sozialdemokratische | |
Politik des Klassenausgleichs versuchten – ganz anders als etwa Hugo Chávez | |
in Venezuela oder die Kirchners in Argentinien. Und weil die ethisch | |
untadelige Rousseff 2011, zu Beginn ihrer Amtszeit, vehementer gegen | |
korrupte Minister vorging als alle ihre Vorgänger zusammen. | |
## Groteskes Spektakel | |
2002 gelobte Lula gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und den | |
Finanzmärkten die Einhaltung geltender Verträge – und gewann wenig später | |
die Präsidentschaftswahl im vierten Anlauf. Aber anstatt die | |
Aufbruchstimmung dazu zu nutzen, um beherzt Strukturreformen anzugehen, | |
entschied er sich für einen konservativen wirtschaftspolitischen Kurs. | |
Die Früchte des Rohstoffbooms wurden etwas gerechter verteilt, aber die | |
Reichen mussten nichts abgeben. Statt Umverteilung wollte Lula Wachstum um | |
jeden Preis und Konsum für alle. Die PT sei eine Partei der Mitte geworden, | |
verbürokratisiert, verbürgerlicht, lautete damals eine gängige linke | |
Kritik. Anstatt das System zu reformieren, ging sie darin auf. | |
2005 saß Lula den ersten großen Schmiergeldskandal aus, bei dem seine | |
rechte Hand José Dirceu Monatszahlungen an konservative Parlamentarier | |
organisierte. Eine Rückbesinnung der PT auf die hohen ethischen Standards, | |
die sie als Oppositionspartei proklamiert hatte, unterband er. Teile der | |
Mittelschicht wandten sich damals enttäuscht ab. Doch mit Charisma und | |
handfesten Sozialprogrammen erweiterte Lula seine Massenbasis bei den | |
Armen. | |
Der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras, ein Quell der Korruption, wurde | |
schamloser ausgeschlachtet als je zuvor. Immer neue Enthüllungen zeigen, | |
wie nicht nur, aber eben auch Millionenbeträge an die PT flossen, ebenso | |
bei anderen Megaprojekten wie dem volkswirtschaftlich und ökologisch | |
widersinnigen Amazonas-Staudamm Belo Monte, den Lula und Rousseff gegen | |
sämtliche Widerstände und unter Beugung des Rechts durchsetzten. | |
## 300 Gauner im Kongress | |
Vetternwirtschaft und Selbstbedienung blieben auch im Fußballbetrieb | |
ungebrochen, den Lula zunächst noch reformieren wollte. Schon bald war er | |
ein Herz und eine Seele mit dem Fußballpaten Ricardo Teixeira. Brasilien | |
bekam die WM, und Lulas Verein Corinthians São Paulo ein neues Stadion, das | |
der Skandalmulti Odebrecht mit günstigen Staatskrediten baute. Der damalige | |
Corinthians-Präsident ist heute PT-Abgeordneter in Brasília. | |
Der Machterhalt um seiner selbst willen wurde immer wichtiger. „Im Kongress | |
sitzt eine Mehrheit von rund 300 Gaunern, die nur ihre eigenen Interessen | |
vertreten“, hatte Lula schon 1993 erkannt. Heute sind es wohl noch ein paar | |
mehr, die man den reaktionären BBB-Fraktion zurechnen darf. BBB: Bulle, | |
Bibel und Blei, also Agrar-, Sekten- und Waffenlobby. Ihre Gesetzesvorhaben | |
richten sich gegen Arbeiter, Frauen, Schwarze, Indigene, die LGBT-Community | |
– und die Umwelt. Doch grundlegende politische Reformen versäumte Lula, als | |
er noch Rückenwind hatte. | |
Und so ist auch die Hybris der beiden PT-Staatschefs jetzt eine Ursache der | |
Krise. Auf dem Gipfel seiner Popularität, als er Fußball-WM und Olympische | |
Spiele nach Brasilien holte, galt Lula international als Superstar. In | |
bester Caudillo-Manier erkor er per Fingerzeig die beratungsresistente | |
Technokratin Rousseff zu seiner Nachfolgerin. | |
## Umgeben von Ja-Sagern | |
Rousseff hingegen war unfähig, in der Schlangengrube Brasília zu bestehen. | |
Gerade bei ungünstigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament – zu ihren | |
besten Zeiten hielt die PT 18 Prozent der Sitze, heute sind es noch 12 – | |
ist Dialog die Voraussetzung für Erfolg. Doch anstatt dialogisch Politik zu | |
machen, verschanzte sich die Staatschefin in ihrem Palast mit einer Schar | |
bedingungslos Getreuer und ihren Aktenordnern. | |
Landlosenbewegung und Zivilgesellschaft ließ sie links liegen. | |
Agrobusiness, Bergbau-, Erdöl- und Holzkonzerne durften ihre kriminelle | |
Offensive gegen die Territorien der Indigenen und anderer traditionell | |
lebender Gemeinschaften ungestört fortsetzen. | |
Auf die Massenproteste 2013, die Verbesserungen in den Bereichen Bildung, | |
Gesundheit und Nahverkehr einforderten, fand sie keine Antwort. 2014 wäre | |
Lula gerne wieder selbst angetreten, doch die Amtsinhaberin wollte nicht | |
weichen. Mit linker Rhetorik gewann sie die Stichwahl auf der Zielgerade – | |
um einen als neoliberal geltenden Banker zum Finanzminister zu ernennen. | |
Der Wahlbetrug war perfekt und eine tiefe Rezession infolge der Sparpolitik | |
die Folge. | |
## Rechte Hegemonie | |
Ein Witz, wenn Wirtschaftsliberale Rousseffs „unsolide“ Haushaltspolitik | |
nach Ende des Rohstoffbooms dafür verantwortlich machen. Doch Rousseffs | |
Popularität stürzte ins Bodenlose. | |
Die Rechte hat inzwischen die Hegemonie auf den Straßen übernommen. Der | |
Hass auf die PT wird in den sozialen Netzwerken und anderswo von jenem | |
Fünftel der Bevölkerung geschürt, bei dem Sklavenhaltermentalität, | |
diktatorische Reflexe und Sehnsucht nach Miami eine ungute Mischung | |
eingehen. | |
Sich mit Teilen der alten Eliten zu verbünden, um ein modernes, soziales | |
Brasilien aufzubauen – diese Hoffnung von Lula, Dilma Rousseff und dem | |
Mehrheitsflügel der PT ist nicht aufgegangen. Umstritten war der | |
antinordamerikanische Impuls, dem 2005 die gesamtamerikanische | |
Freihandelszone Alca zum Opfer fiel. Stark waren jedoch die Kräfte der | |
Beharrung. Der Weg des scheinbar geringsten Widerstands, die Anpassung an | |
die archaische politische Kultur Brasiliens, aber auch an den Kapitalismus | |
des 21. Jahrhunderts haben die Arbeiterpartei ins Desaster geführt. | |
27 Apr 2016 | |
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## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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