# taz.de -- Rückkehr in die Sperrzone bei Fukushima: „Es wird schon okay sei… | |
> Naraha darf als erste Stadt in der Sperrzone wieder besiedelt werden. | |
> Fast alle Schäden sind repariert, aber überall stehen Strahlenmesser. | |
Bild: Azuma Hashimoto, 72, bei der Rückkehr in sein Zuhause in Nahara, Februar… | |
Naraha taz | Jeden Morgen versammelt sich eine Gruppe städtischer | |
Angestellter im Rathaus von Naraha zu einer Besprechung. Dann ziehen sie zu | |
zweit los und suchen in den Wohnvierteln nach neuen Rückkehrern. Sie wollen | |
sie registrieren und fragen, was sie brauchen. Diesmal treffen Kumiko | |
Watanabe und ihre Helferin einen alten Mann in seinem Garten. „Wie geht es | |
Ihnen?“, fragt Watanabe mit warmer Stimme. Der antwortet erst mit „Alles | |
prima“. Aber als der 87-Jährige erzählt, dass er ohne seinen Sohn | |
zurückgekehrt ist, bricht er in Tränen aus. Watanabe versucht den weinenden | |
Alten zu trösten. „Bald kommen ja alle wieder!“, verspricht sie. | |
Doch das ist bisher nur eine Hoffnung. Fast alle Beben- und Tsunami-Schäden | |
in der Kleinstadt sind repariert, Bahnstrecke und Straßen instandgesetzt, | |
Böden und Häuser dekontaminiert. Vor sechs Monaten beschloss die Regierung, | |
dass Naraha als erste von sieben Städten, die im März 2011 komplett | |
evakuiert wurden, wieder besiedelt werden darf. Das Leben dort wurde | |
offiziell und entgegen allen Zweifeln für sicher erklärt. Am 5. September | |
wurde der Evakuierungsbefehl aufgehoben. Ein halbes Jahr später sind erst | |
440 der 7.400 Exbewohner zurück, davon zwei Drittel im Seniorenalter über | |
60. Die Stadt begrüßt jeden Rückkehrer mehr oder weniger einzeln. | |
Bei Reiko Oshikane war die Sehnsucht nach dem alten Leben so groß, dass sie | |
für die Rückkehr einen guten Job gekündigt hat. Der Tsunami hatte ihr | |
anderthalb Kilometer vom Meer entferntes Haus überschwemmt, aber sie und | |
ihr Mann haben es inzwischen instandgesetzt. Ihre Angst vor der Strahlung | |
unterdrückt die 58-Jährige. „In die Berge hinter Naraha sollte ich wegen | |
der hohen Radioaktivität eigentlich nicht gehen“, erzählt sie. „Dann sage | |
ich mir, es wird schon okay sein, ich habe sowieso nur noch dreißig Jahre | |
zu leben.“ Ihr Kalkül klingt zynisch und ist doch rational. Im Rathaus, im | |
Badehotel, an der Straße – in Naraha stehen überall Strahlenmesser. Ihre | |
roten Digitalziffern zeigen Werte von 0,1 bis 0,2 Mikro-Sievert pro Stunde. | |
Das ist deutlich höher als vor dem Unfall, aber aufs Jahr hochgerechnet nur | |
doppelt so viel wie die international empfohlene Dosis. | |
Doch der einzige zurückgekehrte Arzt von Naraha, Kaoru Aoki, hält die | |
Sorgen der früheren Bewohner für berechtigt. „Uns Japanern wurde immer | |
gesagt, dass Atomkraft sicher ist, aber dann gab es diese schreckliche | |
Katastrophe“, sagt er. Die Mehrheit könne daher den Behörden nicht mehr | |
glauben. Der Staat sollte die Bürger besser schützen, verlangt der Arzt. | |
Das gefährliche Strontium 90 sollte man aus dem Trinkwasser filtern, die | |
nicht dekontaminierten Gebiete sperren und dort Warnschilder aufstellen. | |
## Alle haben ein Dosimeter dabei | |
Man könnte die Gefahr leicht vergessen, da radioaktive Strahlung nicht zu | |
sehen, riechen und schmecken ist. Aber jeder Bewohner trägt immer ein | |
Dosimeter bei sich. Und da gibt es noch Tausende schwarzer Säcke mit den | |
Abfällen der Dekontaminierung auf zahlreichen Flächen rings um Naraha. „Wer | |
will, dass die Bewohner zurückkommen, muss sämtliche Abfälle | |
abtransportieren“, meint Aoki. | |
Selbst das dürfte nicht ausreichen, um Jüngere und Familien zurückzulocken. | |
Es mangelt auch an Arbeitsstellen, Freizeitmöglichkeiten, Kindergärten und | |
Schulen. Bürgermeister Yukiei Matsumoto macht sich keine Illusionen: „Der | |
Wiederaufbau von Naraha startet nicht bei null, sondern im Minusbereich.“ | |
Etwa in der Landwirtschaft. Fukushima war früher bekannt für Reis und | |
Pfirsiche, heute ist die regionale Herkunftsbezeichnung ein Stigma. Stolz | |
zeigt der Bürgermeister auf Wandfotos von ihm und Premier Shinzo Abe. | |
„Unser Regierungschef hat vor der Presse Reis und Lachs aus Naraha | |
gegessen, um den Ruf unserer Produkte zu verbessern“, erzählt er. | |
Matsumoto hat das Altersheim renovieren lassen. Mit einem Dutzend | |
Rückkehrer als Bewohnern wurde es eröffnet. Im Februar folgte ein | |
Krankenhaus, ein Hotel wurde ausgebaut. Die Grundschule wird im Frühjahr | |
2017 fertig. Für die geplante Einkaufsstraße mit Super- und Baumarkt fehlt | |
aber ein Betreiber. | |
„Wir haben ein Henne-Ei-Problem“, sagt Kaoru Saito, Generalsekretär der | |
lokalen Handelskammer. „Ohne Geschäfte keine Rückkehrer, ohne Rückkehrer | |
keine Geschäfte!“ Er fordert garantierte, zinslose Kredite gegen das | |
Insolvenzrisiko. Die Zahl der Beschäftigten im Industriepark von Naraha ist | |
von früher 800 auf 10 Mitarbeiter gesunken. Saito versucht es mit einem | |
Appell: „Die Familien sollten nicht über Strahlung, Geld und Infrastruktur | |
nachdenken, sondern wie sie als Familie weiterleben wollen.“ Er rechnet | |
damit, dass in den nächsten fünf Jahren mehr als ein Drittel der Menschen | |
zurückkehrt. | |
Bürgermeister Matsumoto reagiert aufmerksam auf die Wünsche der | |
Rückkehrwilligen. Nach Beschwerden über die tiefe Dunkelheit installierte | |
die Stadt 1.000 besonders helle LED-Lampen. „Die Evakuierten sollen merken, | |
was für ein guter Platz Naraha zum Leben ist“, sagt Matsumoto. | |
## Am Tropf der Atomindustrie | |
Ein Dilemma kann der Politiker nicht auflösen: Die Stadt lebte einst von | |
der Atomindustrie – und hängt jetzt wieder an deren Tropf. Vor dem Unfall | |
wurde der städtische Haushalt zu 60 Prozent durch Zahlungen des | |
Stromversorgers Tepco und staatliche Zuwendungen für die Akzeptanz der | |
Atomanlagen finanziert. Der Großteil der Einwohner arbeitete direkt oder | |
indirekt für die zwei Tepco-Kraftwerke mit zehn Reaktoren. Bei dem Unfall | |
wurde Naraha die AKW-Nähe zum Verhängnis. Aber jetzt kommt mehr als die | |
Hälfte der Einnahmen weiter von Tepco. Neue Jobs entstehen vor allem durch | |
die Stilllegung der Reaktoren. Das AKW ist eine riesige Baustelle mit 7.000 | |
Arbeitern täglich. | |
Auch Kentaro Aoki sieht hier Chancen. Der 26-Jährige arbeitet für eine | |
Kooperative, die am neuen Hafen von Naraha Lachse züchtet. Zuvor hatte Aoki | |
drei Jahre lang bei den Aufräumarbeiten im zerstörten AKW geholfen. „Wenn | |
Tepco mich heute wieder anriefe, würde ich wohl nicht Nein sagen“, meint er | |
unbekümmert. Die Arbeit sei ein „bisschen gefährlich“ und seine Eltern | |
dagegen, aber sie sei gut bezahlt. Wie fast alle Rückkehrer von Naraha | |
zögert er mit Kritik an der Atomkraft. Die reparierten Reaktoren an der | |
Küste könne man noch nutzen. | |
Bürgermeister Matsumoto will den Betreiber Tepco nicht an den Pranger | |
stellen: „Es hat an Sensibilität für Sicherheit gefehlt“, antwortet er auf | |
Nachfrage. Aber das sei für ihn eine Sache der Vergangenheit: „Nach fünf | |
Jahren möchte ich mich auf die Zukunft konzentrieren und Fortschritte | |
machen.“ Im Neuaufbau von Naraha zeigt sich die japanische Neigung, | |
Schlechtes durch Wegschauen zu ignorieren. Das entlastet die Seele und | |
erleichtert den Alltag. Man vermeidet allerdings auch, aus Fehlern zu | |
lernen und neue Wege zu finden. | |
11 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Fritz | |
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