Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Polen im Umbruch: Das ungezogene Kind
> Deutsche Überheblichkeit beim Blick auf Kaczyński ist keine Hilfe. Die
> Polen können, wollen und müssen ihre Probleme selbst lösen.
Bild: Es dämmert den Polen auch ohne deutsche Nachhilfe, dass ihnen da keine S…
Ein nebliger Warschauer Morgen, in der vierten Etage der Gazeta Wyborcza
sitzen Männer mit ein paar Frauen zusammen, zwischen Aufwachen, Hektik und
der Frage: Was sind die Themen des Tages? Eine Morgenkonferenz, wie sie
überall in europäischen Tageszeitungen stattfindet. Auf den ersten Blick.
„Was machen wir zu Tebartz-van Elst?“, fragt einer in die Runde, es ist
Oktober 2013, gegen den Limburger Bischof wurde gerade Strafbefehl
erlassen. „Und was ist mit SPD und CDU, die jetzt über ihre Koalition
verhandeln?“ Auf den Tischen liegen deutsche Zeitungen. Einer erwähnt die
neuen Vorsitzenden der Grünen. Klar ist: Polen schaut nach Deutschland.
Jeden Tag.
Nicht nur in den Zeitungsredaktionen, ob rechts oder links. Die Menschen in
Polen kennen Deutschland, durch Studienaufenthalte, Praktika, Jobs auf dem
Bau. Durch Verwandte, die dort leben. Schüler, die an polnischen Schulen
Deutsch lernen.
Deutschland schaut nicht nach Polen, normalerweise. Für viele Deutsche,
selbst für Journalisten, ist Polen noch immer so exotisch wie vor 25
Jahren. Wer in Deutschland Polnisch lernt, muss einen Grund haben. Aber ab
und an lesen die Deutschen in den Zeitungen: Läuft gut da drüben, die Polen
entwickeln sich.
Nun ist die Hysterie groß. Seit dem 25. Oktober 2015, seit die
nationalkonservative Partei „Prawo i Sprawiedliwość“, kurz PiS, an der
Macht ist, hört und liest man nur noch von Schreckensszenarien: Polen sei
dabei, sich zu „orbanisieren“, es herrsche eine Demokratie „à la Putin�…
gäbe Parallelen zu einer Militärdiktatur, gar nationalsozialistische
Tendenzen. Apocalypse Now!
Erst mal tief ein- und ausatmen, bitte. Die PiS hat die Richter im
Verfassungsgericht nach ihrem Sinne ausgetauscht. Und sie hat per Gesetz
dafür gesorgt, dass die Chefs der öffentlichen Medienanstalten vom
Schatzkanzler installiert werden und ohne Angabe von Gründen wieder
abberufen werden können. Die Aufnahme von lediglich 6.500 Flüchtlingen ist
ein einziges Hin und Her, und nun fällt sogar der einstige Merkelfreund und
EU-Ratspräsident Donald Tusk der Kanzlerin in den Rücken und sagt, es
blieben noch zwei Monate bis zum Kollaps des Schengenraums.
Wie konnte das nur passieren? Hatte sich Polen nicht in rasendem Tempo vom
Kommunismus befreit und in eine moderne Gesellschaft verwandelt? Mit
Wolkenkratzern, Autobahnen und Kentucky Fried Chicken? Investoren
investierten, die Wirtschaft wuchs, die Menschen kauften. Polen war der
„Primus“, Klassenbester unter den neuen Schülern in der EU.
Das ist die eine Erzählung. Die, die im Westen der EU so gern gehört wird.
East goes West, ein postsozialistisches Land „europäisiert“ sich. Genau
darin liege das Problem, meint der polnische Schriftsteller Andrzej
Stasiuk. Polen habe nie versucht, einen eigenen Weg zu finden. „Wieder hat
jemand anders unser Schicksal in die Hände genommen und diktiert uns, wie
wir uns verhalten sollen“, schreibt er in der Welt. „In einem Land, das
seiner eigenen Geschichte so eng verbunden ist, dass man von Verstrickung
sprechen kann, wurde versucht, eine Stunde null einzuführen. Die
Vergangenheit sollte ein für allemal abgeschlossen werden, wichtig einzig
und allein die Zukunft sein.“
## Cleverer Wahlkampf
Doch während in Deutschland an der Erfolgsstory von da drüben
weitergeschrieben wurde, formierte sich in Polen nach und nach ein Chor der
Frustrierten. „Früher“, flüstert dieser Chor aus Jungen und Alten, „fr�…
waren wenigstens alle gleich arm“. „Und“, fragen sie leise die Nachbarn
über den Gartenzaun, „wie viel Rente bekommst du?“ „Ja, das ist ein
richtiger Job, aber mein Arbeitgeber versichert mich nicht.“ Sie wandern
durch die Einkaufstempel und kaufen nichts. Sie gucken nur und wärmen sich
auf. Sie wollen den Kommunismus nicht zurück. Aber sie hätten gern ein
gerechteres Land. Denn seit 25 Jahren fehlt der gut laufenden
Marktwirtschaft im Land ein entscheidendes Attribut: sozial.
Die PiS hat die Zeichen der Zeit erkannt und – das muss man ihnen lassen –
einen sehr cleveren Wahlkampf geführt, mit fast schon linkem Wahlprogramm:
Erstmals in der Geschichte Polens sollten Eltern ein Kindergeld bekommen,
sollte das Rentenalter gesenkt werden. Die PiS erhielt 37,6 Prozent, bei
einer Wahlbeteiligung von nur 51 Prozent. Es ist also nachweislich nicht
so, dass alle Polen diese nationalkonservative, populistische Regierung
wollten; eher jeder Fünfte. Es ist aber so, dass nun alle Polen diese
nationalkonservative, populistische Regierung haben.
Eine Regierung, die über eine absolute Mehrheit verfügt und die absolute
Macht will. Die den Deutschen als Feind betrachtet, sich lächerlich macht
mit Verschwörungstheorien und Ministern, die Radfahrer und Vegetarier als
das Übel der Welt sehen, neben Flüchtlingen natürlich.
## Hart durchgreifen?
Die EU will nun erstmals den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus anwenden.
Und wer die konkreten Fragen liest, die der polnischen Regierung gestellt
werden, dem wird klar, wie durchdacht das Verfahren ist. Doch der Ton, den
manche, vor allem deutsche Politiker in Brüssel anschlagen, ist nur ein
Tick weniger populistisch als der in Warschau. „Das ist gelenkte Demokratie
nach Putins Art“, sagte Parlamentspräsident Martin Schulz. Man müsse Polen
„unter Aufsicht stellen“, sagte EU-Kommissar Günther Oettinger.
Das pubertierende Land, das kein Musterschüler mehr sein will. Und Papa
Oettinger und Papa Schulz schütteln den Kopf: Was ist nur aus unserem
braven Kind geworden! Da müssen wir jetzt hart durchgreifen. Ähnlich wie
bei den Griechen, noch so ein pubertierendes Volk. Was ist die Lösung, wenn
Teenies rebellieren? Brauchen sie Sanktionen, Strafen? Oder doch ein
Gespräch, um zu verhandeln, wie es weitergehen kann? Und Freiraum, um ihre
Fehler selbst zu regeln?
Sicher ist: Das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, ist für Polen eine denkbar
schlechte Konstellation. Man kann das als Opfermythos abtun. Nur leider ist
es in weiten Teilen des Landes einfach Realität. Wer jahrhundertelang
Spielball zweier Mächte war und zwischen Russland und Deutschland hin und
her gekickt wurde, wer so lange auf ein nationales Bewusstsein verzichten
musste, der verfällt heute schnell in Nationalismen, der schottet sich ab,
wenn er sich angegriffen fühlt.
## Bigotte Aufregung
Polen ist in Teilen fremdenfeindlich und antisemitisch, darüber muss man
nicht diskutieren. Bis heute ist die Rolle derer, die im Zweiten Weltkrieg
ihre jüdischen Nachbarn verraten und ermordet haben, nicht aufgearbeitet.
Als die Schriftstellerin Olga Tokarczuk im vergangenen Jahr ihren neuen
Roman veröffentlichte, der das zum Thema macht, bekam sie Morddrohungen.
Der Pole als Täter? Es wäre an der Zeit, sich diese Erzählung einmal
anzuhören. Und dann einen eigenen Weg zu finden, mit ihr umzugehen.
Dass sich deutsche Politiker über die polnische Fremdenfeindlichkeit
ereifern, ist bigott. Als hätten sie selbst Ausländer immer mit offenen
Armen empfangen, als würde die Aufarbeitung der Nazivergangenheit nicht bis
heute andauern, als hätte es den NSU oder Pegida nie gegeben, als stünde
die AfD derzeit nicht bei 10 Prozent.
Zu viel Einmischung von außen wird den Polen nicht helfen. Sie müssen und
wollen ihre Probleme selbst lösen. Ein Elektriker hat vor 25 Jahren
entscheidend dazu beigetragen, dass ein Jahrzehnte währendes System
gestürzt werden konnte, darauf sind die Polen noch heute stolz. Wandel
entsteht in diesem Land eher von unten als von oben.
## Schnelle Demaskierung
Die Zivilgesellschaft in Polen ist stark, die Menschen lassen sich nicht
führen von jemandem, der ihr Vertrauen missbraucht hat. Das musste schon
die Vorgängerregierung lernen, die sich durch Faulheit, Elitendenken und
eine Abhöraffäre diskreditiert hatte. Auch sie wurde im Übrigen
beschuldigt, Verfassungsgericht und Medien ihren politischen Interessen
entsprechend besetzt zu haben. Ein Vertrauensbruch zwischen Volk und
Regierung, der Jahre dauerte.
Der PiS gelingt das innerhalb weniger Wochen. Was für ein Glück! Kaczyński
und sein Gefolge haben sich derart schnell demaskiert, dass vielen ihrer
Wähler schon jetzt dämmert: Das ist nicht die modernisierte, junge Partei,
die sich im Wahlkampf präsentierte. Zehntausende gehen nun Wochenende für
Wochenende auf die Straße, um gegen die Reformen der Regierung zu
protestieren.
Derweil postet auf Facebook ein Journalist der Zeit (ohne eigenen
Polenkorrespondenten) Fotos aus Warschau und betitelt sie mit: „Noch ist
Polen nicht verloren“. Die taz schreibt: „Die PiS und der Blitzkrieg“. In
der FAZ schlägt einer vor, man solle doch die AfD-Anhänger nach Polen
schicken, die seien genauso gegen Radfahrer und Vegetarier. „Von Ungarn und
Polen droht eine größere Gefahr als von der Mördertruppe des IS“, heißt es
in der Berliner Zeitung. Es ist dieser überhebliche Paternalismus, der der
PiS in die Hände spielt. Die Partei wartet nur darauf, dass Journalisten
und Politiker aus Brüssel und Berlin hysterisch aufschreien, dann kann sie
wieder mit dem Finger aufs Ausland zeigen – und die Kritik im eigenen Land
ignorieren.
25 Jan 2016
## AUTOREN
Emilia Smechowski
## TAGS
Polen
Jarosław Kaczyński
PiS
Polen
Polen
Polen
Polen
Polen
Polen
Polen
Polen
Polen
Telemediengesetz
Polen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ein Jahr zwischen Danzig und Berlin: Wenn Polen offen ist
Ein Jahr lebten Freundin und Tochter unseres Autors in Gdańsk. Er pendelte
hin und her, im Gepäck: polnische Grammatik, Döblin und Ostseesand.
Kommentar Polnische Kritik an der EU: Tusk, der ewige Widersacher
Den Kaczyńskis war EU-Ratspräsident Donald Tusk immer ein Dorn im Auge.
Jetzt wird er mit Hass und Verschwörungstheorien konfrontiert.
Links-Oppositionelle über Polens Krise: „Politik des Dialogs, nicht der Wut�…
Die junge Partei Razem will Politik für sozial Benachteiligte machen – und
kritisiert den autoritären Ansatz der Regierung, erklärt Aleksandra Cacha.
Protest gegen polnische Regierung: Das Streben nach den Seelen
Kritik als staatsfeindlicher Akt: Unter den Intellektuellen in Polen wächst
der Widerstand gegen den offiziellen „patriotischen“ Kurs.
Polens neuer Generalstaatsanwalt: Ziobro, der Allmächtige
Der Justizminister der PiS wird oberster Staatsanwalt. In dieser
Doppelfunktion gab Zbigniew Ziobro schon einmal den erbarmungslosen
Sheriff.
Zivilgesellschaft in Polen: Demonstrationen in über 30 Städten
Ex-Präsident Walesa wirft Polens Regierung Ruinierung des Landes vor.
Tausende folgen Aufrufen zu Protesten gegen die rechtskonservative PiS.
EU diskutiert Mediengesetz in Polen: Keine Sanktionen gegen Polen
Brüssel prüft Verstöße der polnischen Regierung gegen das europäische
Regelwerk. Und EU-Kommissar Oettinger droht eine schwere Schlappe.
Kommentar Politischer Kurs in Polen: Die PiS und der Blitzkrieg
Noch findet keine ernsthafte Diskussion über PiS statt. Die Gegner im
Inland verlacht die Partei nur. Deshalb braucht es Intervention von außen.
Proteste in Polen: „Freie Medien – freies Polen“
Zehntausende gehen in Warschau und anderen Städten auf die Straße. Die
regierende PiS stört das weniger als die zunehmende Kritik aus der EU.
Polnischer Außenminister zu EU-Kritik: „Verständnis wäre wünschenswert“
Die PiS greift mit Gesetzen in Justiz und Medien ein, die EU droht mit
Konsequenzen. Polens Außenminister fordert nun Solidarität – vor allem von
Deutschland.
Wissenschaftler über polnische Rechte: „Kaczyński misstraut allen“
Polen ist ein anderes Land geworden: Philipp Ther, Sachbuchpreisträger,
über den Nationalismus und die Wirtschaftspolitik Polens nach 1989.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.