| # taz.de -- Essay Rechtsparteien in Europa: Die Profiteure des „Dritten Wegs�… | |
| > Rechtspopulisten haben von der Linken die Vertretung der ökonomisch | |
| > Benachteiligten übernommen. So haben sie das bipolare Parteiensystem | |
| > erweitert. | |
| Bild: Von rechts nach rechts: Matteo Salvini (Lega Nord), Harald Vilimsky (FPÖ… | |
| Nichts scheint nach dem Triumph des Front National am letzten Sonntag mehr | |
| ausgeschlossen: Nicht dass Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen 2017 | |
| an Marine Le Pen und ihren Front National fällt, ja nicht einmal mehr, dass | |
| die EU unter dem Druck ihrer Widersprüche, unter dem politischen Feuer der | |
| auf dem ganzen Kontinent vormarschierenden Populisten auseinanderbricht. | |
| Ob wir den französischen Wahlgang nun „Schock“ oder „Erdbeben“ nennen | |
| wollen, klar ist auf jeden Fall, dass er anderes markiert als eine Episode, | |
| als einen Betriebsunfall, dass er für einen Epochenbruch steht, für die | |
| dramatische Veränderung der europäischen Parteiensysteme. Jahrzehntelang | |
| waren sie im Kern von einem bipolaren Schema geprägt, in dem in Frankreich | |
| die gaullistische Rechte und die PS, in Großbritannien Labour und die | |
| Konservativen, in Spanien der Partido Popular und die PSOE, in Deutschland | |
| CDU und SPD um die Macht rangen, in dem kleinere Parteien bestenfalls die | |
| Rolle des Juniorpartners an der Regierung oder der ewigen Opposition | |
| beanspruchen konnten. | |
| Da konkurrierten eine gemäßigte Rechte und eine gemäßigte Linke, deren | |
| Grundkonsens selbst in jenen Ländern, in denen die politische Rhetorik des | |
| Parteienstreits bisweilen deutlich schriller ist als im weichgespülten | |
| Deutschland, die Differenzen deutlich überwog, in dem die parlamentarische | |
| Demokratie ebenso wenig wie die Marktwirtschaft und die Verankerung der | |
| jeweiligen Staaten in der EU zur Disposition stand, kurz: in dem auch bei | |
| Regierungswechseln das eingespielte System nie infrage gestellt war. | |
| Selbst das Aufkommen und kontinuierliche Erstarken rechtspopulistischer | |
| Parteien schien an diesem Befund vorerst nichts zu ändern; wirkliche Sorge | |
| jedenfalls machte sich in Europa nicht breit. Als Protestvotum wurden die | |
| Stimmen für die Haiders, Le Pens oder Wilders‘ abgebucht, als Wutwahlen, | |
| bei denen unzufriedene Bürger Dampf abließen – als Wahlen zugleich aber, | |
| die das bisherige Parteiengefüge nicht wirklich erschütterten, sondern bloß | |
| um ein Protestsegment ergänzten. | |
| ## Eine echte Machtperspektive | |
| Schon vor dem Schock von Frankreich hätte man es besser wissen können; | |
| zeigte doch der stetige Vormarsch rechtspopulistischer Parteien in | |
| Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Finnland, Ungarn oder Polen, dass | |
| sich eine radikale Veränderung in den Parteiensystemen vollzog, dass das | |
| bipolare durch ein tripolares Schema abgelöst wird, in dem die neuen | |
| Rechten keineswegs mehr bloß minoritäre Protestmilieus vertreten, sondern | |
| sich eine echte Machtperspektive erarbeiten. | |
| Ihr Angebot, zusammengesetzt aus Reklamierung der nationalen Souveränität, | |
| antieuropäischer Haltung – vom Ausstieg aus dem Euro bis zur Aufkündigung | |
| der EU-Mitgliedschaft – und Fremdenfeindlichkeit, findet wachsendes Gehör. | |
| Bei dejenigen, denen es offenbar mehr Sorge macht, alles könne so | |
| weitergehen wie bisher, als den Sprung ins Ungewisse, auch in eine | |
| womöglich letale Krise der EU zu riskieren. | |
| Das neue Parteienschema, das sich nunmehr klar abzeichnet, sieht drei | |
| Kräfte auf dem Feld, die bei den Wahlen um Platz eins konkurrieren: die | |
| gemäßigte, sozialdemokratische Linke, die gemäßigte Rechte sowie die | |
| populistische bis radikale Rechte – eine Rechte, die ihrerseits den alten | |
| Rechts-links-Gegensatz für überholt erklärt und behauptet, er sei durch den | |
| neuen Gegensatz zwischen den „Etablierten“, den „Eliten“, der | |
| „Politikerkaste“ einerseits, den wahren Vertretern des einfachen Volks | |
| andererseits ersetzt. | |
| ## Große Koalitionen marginalisieren sich selbst | |
| Es liegt auf der Hand, dass dieses neue Schema für die europäischen | |
| Sozialdemokratien, aber auch für die anderen Parteien links der Mitte | |
| besonders ungemütlich ist: Der Pakt zwischen den beiden Lagern der Rechten | |
| wird zur realistischen Perspektive, der als Alternative nur noch Große | |
| Koalitionen gegenüberstünden, Große Koalitionen – Österreich zum Beispiel | |
| zeigt dies –, die ihrerseits scheinbar den populistischen Vorwurf vom | |
| Machtkartell der Etablierten voll bestätigen und darüber von Wahl zu Wahl | |
| immer kleiner werden. | |
| Und besonders bitter muss es die sozialdemokratischen Parteien anrühren, | |
| dass die Populisten für sich jene Rolle reklamieren, die früher das | |
| Kerngeschäft der Linken war: die Vertretung der einfachen Leute, der | |
| ökonomische Benachteiligten, der Zu-kurz-Gekommenen. Klassische Arbeiter- | |
| und Arme-Leute-Viertel wählen heute quer durch Europa eher rechts als links | |
| (wenn die Menschen dort überhaupt wählen gehen), während Linke und Grüne | |
| ihre besten Chancen in den Vierteln des aufstrebenden, gebildeten | |
| Bürgertums haben. | |
| Wirklich überraschend ist das nicht. Spätestens mit den „Dritten Wegen“ d… | |
| Neunzigerjahre hat die europäische Sozialdemokratie aufgehört, ihrer alten | |
| Kernwählerschaft noch ein attraktives Angebot zu formulieren: deutlich zu | |
| machen, dass für sie die Interessen der Unterprivilegierten oben auf der | |
| Agenda stehen. Wahlen würden „in der Mitte gewonnen“, hieß das Mantra, und | |
| noch vor der politischen war die gesellschaftliche Mitte gemeint. | |
| Unterfüttert war diese Haltung von dem optimistischen Glauben, die | |
| neoliberalen Umbauarbeiten würden für kräftige Prosperität und damit dafür | |
| sorgen, dass auch am unteren Ende der Gesellschaft wachsender Wohlstand um | |
| sich greife. | |
| Eben jene gesellschaftliche Konvergenzerwartung hat sich ebenso wenig | |
| erfüllt wie die makroökonomische Konvergenzerwartung zwischen den Staaten | |
| der Währungsunion, die bei Einführung des Euro in den Rang eines Dogmas | |
| erhoben wurde. Gerade im Süden Europas – aber auch in Frankreich – wird der | |
| Euro von großen Teilen der Bevölkerung als Zwangsjacke empfunden. Er steht | |
| nicht für Prosperität, sondern für die Sparzwänge der Austerität. | |
| ## Auch von links kommt Druck | |
| Kein Trost ist es für die sozialdemokratischen Parteien, dass im Süden des | |
| Kontinents Rechtspopulisten in weit geringerem Maße auf dem Vormarsch sind. | |
| Stattdessen geht hier der Druck von neuen Parteien der radikalen Linken | |
| aus, wurde etwa in Griechenland die Pasok durch Syriza zur Splitterpartei | |
| dezimiert. Und selbst in Italien, in dem Ministerpräsident Matteo Renzi mit | |
| seiner gemäßigt linken Partito Democratico scheinbar fest im Sattel sitzt, | |
| schließen die Umfragen bei nationalen Wahlen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit | |
| Beppe Grillos 5-Sterne-Bewegung nicht aus, ja halten selbst den Sieg | |
| Grillos für ein denkbares Szenario. | |
| Bleibt Deutschland. Wohl das letzte Land, in dem sich die etablierten | |
| Partei in Sicherheit wiegen zu können glaubten. Deutschland: die | |
| Wohlfühlrepublik, in der satte Mehrheiten sich zufrieden mit der eigenen | |
| Lebenssituation äußern – in der aber auch ein rund ein Viertel der | |
| Erwerbsbevölkerung zählendes Heer von Niedriglöhnern vor allem des | |
| Dienstleistungsprekariats entstanden ist. | |
| Hier spielte sich der Parteienwettbewerb in der Tat zunehmend in der Mitte | |
| ab – doch die Ränder blieben zu Hause. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung | |
| schlüsselte nach den Bundestagswahlen 2013 im Detail das Wahlverhalten der | |
| Bürger Stimmbezirk für Stimmbezirk auf und kam zu dem Befund, dass zum | |
| Beispiel in den ärmsten und von der relativ höchsten Arbeitslosigkeit | |
| geprägten Zonen Kölns gerade einmal 43 Prozent der Menschen noch wählen | |
| gehen, während die Wahlbeteiligung in den bestsituierten Gegenden 90 | |
| Prozent erreichte. | |
| Der Frust über ein ökonomisches System, das vielen Prekarität, sozialen | |
| Abstieg oder auch „nur“ die Angst vor Abstieg beschert hat, mit einem | |
| politischen System, in dem die Wähler – siehe Griechenland! – scheinbar mit | |
| ihrer Stimme nichts mehr entscheiden können, da ja alles im europäischen | |
| Kontext „alternativlos“ ist und da die wirklich relevanten Entscheidungen | |
| auf Ebenen fallen, die schwach bis gar nicht demokratisch legitimiert sind: | |
| Dies vorneweg sind die Einfallstore für die europäischen Rechtspopulisten. | |
| Ihnen mit einer „republikanischen Front“, dem „Bündnis aller Demokraten�… | |
| beikommen zu wollen, mag taktisch geraten sein, eine langfristig | |
| erfolgversprechende Strategie ist es nicht. | |
| Wenn die Parteien links von der Mitte je wieder eine eigenständige | |
| Regierungsperspektive erlangen wollen, dann sind sie gefordert, ihre | |
| Positionen radikal zu überdenken; dann werden sie sich mit der Frage | |
| auseinandersetzen müssen, wie sie wirtschafts- und sozialpolitisch neue | |
| Perspektiven der Inklusion entwickeln wollen, statt sich mit dem wachsenden | |
| Auseinanderdriften der Gesellschaft einfach abzufinden. Und dann sind sie | |
| ebenso gefordert, Europa samt seinem Verhältnis zu den Nationalstaaten neu | |
| zu denken und Räume für demokratische Entscheidungen, in denen die Stimmen | |
| aller Bürger wieder zählen, zurückzuerobern. | |
| 12 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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