# taz.de -- Zu Besuch im Herzen Frankreichs: Früher wurde hier debattiert | |
> Ein Dorf mitten auf dem Land. Mehr als die Hälfte der Menschen dort wählt | |
> Front National. Das war schon so, bevor die Sudanesen kamen. | |
Bild: „La France profonde“: ein schiefer Turm und 52 Prozent FN. | |
PIERREFITTE-ÈS-BOIS taz | Der Kirchturm steht schief wie der viel | |
berühmtere von Pisa. Das war seit Jahrzehnten immer die einzige Attraktion | |
in diesem kleinen Dorf. Pierrefitte-ès-Bois liegt geografisch mitten im | |
Herzen Frankreichs, im Gravizentrum, in einer anmutigen Hügellandschaft im | |
Süden des Département Loiret. Eine solche Gegend stellen sich die Pariser | |
vor, wenn sie etwas herablassend von „France profonde“, der Hinterwelt der | |
Provinz, reden. | |
Ist dies das Land, in dem es sich laut Vorstellung von Touristen „wie Gott | |
in Frankreich“ leben lässt? Noch gibt es eine Grundschule, doch von Jahr zu | |
Jahr muss damit gerechnet werden, dass sie wegen einer ungenügenden Zahl | |
von Schulkindern geschlossen und verlegt wird. In diesem Dorf wohnen knapp | |
300 Leute, hier gibt es keine Post, keine Bank, keine Apotheke, kein | |
Restaurant. Die „Épicerie“ ist ein kommunales Lokal, in dem ein paar | |
Vormittage in der Woche ein auswärtiges Ehepaar Lebensmittel verkauft. | |
Seit ein paar Wochen sind in einem Ferienheim mitten im Dorf Flüchtlinge | |
aus dem Sudan untergebracht. Doch sie sind nicht der Grund, warum am | |
letzten Wochenende hier bei den Regionalwahlen 52 Prozent für den Front | |
National gestimmt haben, exakt genauso viele wie schon im März bei den | |
Departementswahlen, aber deutlich mehr als im Landesdurchschnitt (28 | |
Prozent). | |
„Das ist schlimm für uns“, meint Bürgermeisterin Ghislaine Beaudet. Sie | |
hängt sehr an diesem Dorf, in dem ihre Familie seit Generationen lebt. Sie | |
hat als Exportdirektorin für eine Kosmetikfirma in Paris gearbeitet, und | |
seit sie in Rente ist, kann sie ihre Zeit dem kommunalen Alltag widmen. Sie | |
ist 2014 als Parteilose Bürgermeisterin geworden. „Wie die meisten kleinen | |
Dörfer können wir uns den Luxus einer Konkurrenz von Parteien hier nicht | |
leisten“, sagt sie . | |
## Keiner widerspricht der FN-Propaganda | |
Auch dass sich ausländische Medien für Pierrefitte interessieren, kommt so | |
gut wie nie vor. Obwohl ihr der Anlass des Besuchs ungelegen erscheint, hat | |
die Bürgermeisterin Kaffee und Kuchen bereitgestellt. Überrascht ist sie | |
von dem Wahlergebnis überhaupt nicht. „Ich weiß sehr wohl, wer hier FN | |
wählt. Es gibt ein paar rechtsextreme Aktivisten in der Gegend. Aus Respekt | |
vor dem Wahlgeheimnis darf ich keine Namen nennen“, sagt sie. | |
Die Leute hier würden selber gar nichts sagen. Das Erschreckende daran sei | |
der totale Mangel an politischer Diskussion und Bildung. „Früher wurde hier | |
über Politik debattiert. Jetzt sitzen alle nur zu Hause und schauen fern, | |
ihre Informationen haben sie alle von dem privatisierten Sender TF1. Die | |
einfache Propaganda des FN und Marine Le Pens Vorschläge à la ‚Man braucht | |
doch nur …‘ und ‚Man sollte doch endlich …‘ kommen ohne Widerrede an.… | |
Am Dorfrand vor einem großen Haus, wohin sie zum Reinemachen kommt, lässt | |
sich dennoch die etwa 40-jährige Geneviève M. auf einen Schwatz über die | |
Wahlen ein. „Ich bin weder pro FN noch kontra FN. Mit meinem Mann sind wir | |
nicht wählen gegangen, weil wir etwas anderes zu tun hatten. Aber meinen | |
Sie wirklich, dass man Marine (Le Pen) machen lässt, was sie sagt, wenn sie | |
gewählt würde?“, fragt sie und schaut listig durch ihre rot umrandete | |
Brille. | |
Für eine Wahl des FN aus Wut auf die Regierung hat sie Verständnis: „Die | |
kümmern sich nie um uns und machen, was sie wollen“, schimpft sie über eine | |
nicht genau definierte Staatsmacht. Sie erwähnt die gesunkenen | |
Ertragszinsen ihrer Lebensversicherung und einen 2008 von einer | |
Rechtsregierung gestrichenen Steuerabzug für Witwen, was sie dann pauschal | |
dem sozialistischen Präsidenten François Hollande anlastet. Zu den | |
Flüchtlingen im Ferienheim meint sie achselzuckend, die seien ja „sehr | |
diskret“. | |
## Das Dorf der Unsichtbaren | |
Sie sind jedenfalls in diesem Dorf genauso unsichtbar wie die FN-Wähler. In | |
einem durch eine Mauer geschützten Urlaubszentrum haben sie ihre | |
Unterkunft, Aufenthaltsräume und einen Fußballplatz. Nur sehr selten suchen | |
sie mit einem Bus oder zu Fuß das 10 Kilometer entfernte Städtchen | |
Châtillon-sur-Loire auf, um sich dort Zigaretten zu kaufen, sagt | |
Bürgermeisterin Beaudet, die ihre Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen, | |
„keine Sekunde“ bereut. | |
Anfang Oktober, vor der Ankunft dieser Gruppe Asylbewerber aus dem Lager | |
bei Calais, hatte sie einen Informationsabend organisiert. „An die hundert | |
Leute sind gekommen. Es sind schreckliche Dinge gesagt worden.“ Einer habe | |
sogar gedroht: „Wenn ich einen von denen sehe, hole ich meine Flinte!“ Und | |
dieser gleiche Nachbar habe ihr kürzlich gesagt: „Was die Sudanesen nebenan | |
kochen, das riecht doch fantastisch gut. Man muss zugeben, die Sudanesen | |
sind sehr freundlich und höflich“, er würde sich gern zum Essen einladen | |
lassen. | |
Zwölf Freiwillige aus Pierrefitte und aus der Nähe geben ihnen | |
Französischunterricht. Andere haben spontan Kleider gebracht. Auf den | |
Ausgang der Wahl, bei denen auch in der Region Centre-Val-de-Loire die | |
FN-Liste nach der ersten Runde in Führung lag, hat sich die Ankunft dieser | |
Flüchtlinge nicht ausgewirkt. Doch Hervé Le Moal, der Inhaber eines kleinen | |
„Traiteur“-Unternehmens, das Essen für Feste und Empfänge liefert, hat aus | |
Zorn über die Asylpolitik des Gemeinderates beschlossen, die „Bar“ zu | |
schließen, die vorher jeweils als einziger Treffpunkt am Freitagmorgen | |
geöffnet war. Einen Kommentar zu seinem Beschluss will Le Moal nicht | |
abgeben. Wen er wählt, behält er für sich. | |
## Sie würde es wieder tun | |
Demnächst werden die sudanesischen Flüchtlinge in ein anderes Zentrum | |
verlegt. Die Bürgermeisterin plant, erneut ihre Zustimmung zu geben, wenn | |
die Präfektur anfragt, ob Pierrefitte noch einmal Migranten oder | |
Flüchtlinge aufnehmen könne. Sie weiß, dass das vor allem mit den | |
heimlichen Sympathisanten des fremdenfeindlichen FN Streit geben kann. Auch | |
auf das Risiko hin, dass deswegen der Segen im Dorf so schief hängt wie der | |
Kirchturm, hält sie an ihrer Linie fest. | |
Am liebsten möchte sie Familien mit Kindern. Das würde es ihr erleichtern, | |
ihre Schule zu behalten und so zu verhindern, dass Pierrefitte-ès-Bois noch | |
mehr ins ländliche Abseits gerät. „Das ist mir bisher nur gelungen, weil | |
ich einen direkten Draht zu einem Senator und zu den Regionalbehörden | |
hatte.“ Diese waren seit Langem in der Hand der Sozialisten, die am Sonntag | |
ihre Mehrheit verlieren könnten, fügt sie hinzu. | |
13 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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